Massenhysterien auf sozialen Netzwerken: Zufall oder Vorsatz?

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Massenhysterien auf sozialen Netzwerken: Zufall oder Vorsatz?

Massenhysterien auf sozialen Netzwerken: Zufall oder Vorsatz?

Tics durch TikTok Alles ein Zufall oder existiert ein kausaler Zusammenhang? (Foto: Vinicius "amnx" Amano | unsplash) 

Auf mysteriöse Weise häufen sich in psychologischen Einrichtungen die Fälle an angeblichen Tourette-Syndromen. Die Vermutung liegt nahe, dass die Nutzung sozialer Netzwerke dieses Phänomen beeinflusst haben. Alles ein Zufall oder existiert ein kausaler Zusammenhang? (Foto: Vinicius "amnx" Amano | unsplashG) 

Professorin Dr. Kirsten Müller-Vahl, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, hat in ihrer Sprechstunde ein neues Phänomen beobachtet: Jugendliche präsentieren nach der Betrachtung von YouTube-Videos, in denen Tourette-ähnliche Symptome dargestellt werden (in den meisten Fällen auf dem YouTube-Kanal „Gewitter im Kopf“), die gleichen Symptome wie in den Videos. Die Fachärztin erkannte, dass es sich bei den meisten Patientinnen und Patienten nicht um Tourette handelte, sondern um eine funktionelle Störung, die sich wie eine Massenhysterie verbreitet. Mit einer funktionellen Störung ist nicht die Imitation oder das Simulieren von Symptomen gemeint, sondern eine Krankheit mit Handlungsbedarf.  

Funktionelle Tic-Störungen, anders als das Tourette-Syndrom: 

  • entstehen erst in Jugendjahren und beginnen abrupt,  
  • lassen sich lindern,  
  • äußern sich häufiger in Gesellschaft von Mitmenschen 
  • und können durch eine Behandlung komplett verschwinden. 

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Was steckt dahinter? Und kann man sich auf sozialen Netzwerken mit psychologischen Erkrankungen „infizieren“?

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    Was ist eine Massenhysterie bzw. eine Massenkrankheit?
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    Wie entsteht eine Massenhysterie oder Massenkrankheit?
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    Wie können soziale Netzwerke und die Entstehung von Massenhysterien zusammenhängen?
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    Seit wann wird über medial verursachte Massenhysterien bzw. Massenkrankheiten berichtet?
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    Wie beeinflussen soziale Netzwerke unsere Emotionen, Meinungen und unser Verhalten?
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    Welche Rolle spielen parasoziale Beziehungen?
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    Fazit: Henne oder Ei? Tics oder TikTok? Was kam zuerst?

Was ist eine Massenhysterie bzw. eine Massenkrankheit?

In der Literatur wird der Begriff der Massenhysterie „unterschiedlich verwendet, manchmal ausschließlich im Sinne von in großen Menschenansammlungen auftretender gemeinsame starke Erregung, die durch einen äußeren Anlass hervorgerufen wird. Beispiele sind hier Popkonzerte, Sportgroßveranstaltung.“ Von einer Massenhysterie ist auch die Rede, wenn für „eine rasche Verbreitung eines oder meist mehrerer Symptome oder Krankheitszeichen […] keine organische Erklärung gefunden werden kann“. Der englische Begriff „hysteria“ wurde aber bereits in den 50er Jahren von der American Psychiatric Association als unspezifisch, holprig und für Frauen stigmatisierend aus dem Verkehr gezogen. Stattdessen taucht das bezeichnete Phänomen in der englischen Literatur als „mass psychogenic illness“ (MPI) oder auf Deutsch als „Massenkrankheit“ auf: dann, wenn klar abzugrenzende Menschengruppen gleichzeitig die gleichen gesundheitlichen oder emotionalen Symptome entwickeln, ohne dass ein klar erkennbarer materieller Grund oder Auslöser vorliegt.

Laut Dr. Kirsten Müller-Vahl ging man früher ging man davon aus, dass sich Menschen bei Massenhysterien oder Massenkrankheiten in einer realen Situation begegneten. Ihre aktuelle Beobachtung lässt aber vermuten, dass Massenhysterien oder Massenkrankheiten auch über soziale Medien möglich sind. Ein ähnlicher Fall, bei dem aufgrund eines viralen Internetvideos mehr als ein Dutzend junger Mädchen einer US-amerikanischen Kleinstadt Tourette-ähnliche Symptome präsentierten, fand bereits 2012 statt. Über weitere Fälle in britischen Schulen schrieb 2021 auch eine Redakteurin des englischsprachigen Guardian.

Wie entsteht eine Massenhysterie oder Massenkrankheit?

Der Zürcher Psychotherapeut Gary Bruno Schmid beschreibt in seiner These die Voraussetzungen zur Entstehung von einer MPI: „Die Krankheitszeichen müssten für alle sichtbar sein, dem lokalen Krankheitsverständnis entsprechen und als Krankheitsgewinn für die Betroffenen Zuflucht an einen «Ruheort» – weit weg von Stressoren – versprechen.“ Noch interessanter wird die These durch die Beobachtungen des Soziologen Robert Bartholomew, der bei einem bestimmten Fall feststellte, dass, nachdem „die Medienberichterstattung eingestellt worden war, […] sich der Zustand aller Patienten schnell zu verbessern“ begann.

Im Falle der einleitend beschriebenen funktionellen Störungen kann auch „die Zunahme von Angstzuständen, Stimmungsproblemen und psychosozialem Stress während der COVID-19-Pandemie“ eine der Ursachen für deren häufigeres Auftreten darstellen. Tourette-Forscher stellen dem gegenüber fest, dass bei jungen Menschen „die Beschäftigung mit sozialen Medieninhalten, die mit Tic-ähnlichen Verhaltensweisen in Verbindung stehen, […] ähnliche Symptome bei Menschen auslösen“ kann, sofern sie dafür grundlegend anfällig sind.

Klar ist, dass nicht jede Krankheit eines Individuums jeweils eine Massenkrankheit auslöst. Was hier wissenschaftlich untersucht und präzisiert wird, sind einzelne Phänomene, welche wiederkehrende, ähnelnde Eigenschaften besitzen. Wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, als Zuschauerin oder Zuschauer eines Erkrankten dieselben Erkrankungssymptome zu entwickeln, wurde wissenschaftlich nicht untersucht. Belegt ist wissenschaftlich aber, dass das Phänomen – in Form von funktionellen Störungen –  im Zusammenhang mit der Pandemie häufiger wahrgenommen wurde.

Wie können soziale Netzwerke und die Entstehung von Massenhysterien zusammenhängen?

Die oben beschriebene These zur Entstehung von Massenhysterien ist nur bedingt auf die Verbreitung durch soziale Medien anzuwenden, zumal der Gegenstand noch unzureichend untersucht wurde. Dennoch haben die sozialen Netzwerke die inhärente Eigenschaft,

  • soziales Miteinander zu erzeugen,
  • sogar parasoziale Beziehungen zu ermöglichen,
  • die thematischen Vorlieben der Nutzerinnen und Nutzer zu erlernen,
  • die erlernten Vorlieben bei der Empfehlung von bezahlten oder unbezahlten Inhalten einzuspeisen, um so Inhalte passender auszuliefern (Stichwort: Filter Bubble),
  • dafür zu sorgen, dass die Nutzerinnen und Nutzer möglichst viel Zeit und Aufmerksamkeit dem Netzwerk widmen (Stichwort „FOMO“ oder „infinite scroll“),
  • durch soziale, öffentliche und messbare Interaktionsmöglichkeiten (Likes, Kommentare, Views, Plays, Shares, etc.) einen sozialen (Erwartungs-)Druck aufzubauen,
  • sowie emotional bewegendere Inhalte (vor allem Wut) häufiger viral zu verbreiten, als emotional neutrale Inhalte.

Diese genannten Faktoren verstärken also zum einen den sozialen Austausch sowie das Zugehörigkeitsgefühl. Zum anderen fördern sie die Verbreitung von emotional aufwühlenden Inhalten – zu denen auch Berichte über seltene oder beängstigende Krankheiten zählen.

Dass der in der Einleitung erwähnte YouTube-Kanal „Gewitter im Kopf“, der für die Verbreitung der Massenhysterie gesorgt haben soll, fast zu den 100 größten YouTube-Kanälen Deutschlands zählt, unterstützt die These, dass sich mit größerer Reichweite auch der Nutzerkreis einer potenziellen Massenhysterie vergrößert. In Zahlen: Pro Monat werden die Videos des Kanals durchschnittlich 1,3 Millionen Mal angeschaut. Die insgesamt zwei Millionen Followerinnen und Follower („FuF“) des Kanals haben insgesamt über 300 Millionen Mal deren Videos konsumiert. Auf TikTok folgen @gewitterimkopf bereits 1,3 Millionen, auf Instagram über 500 Tausend und auf Twitch in ihren Livestreams über 23 Tausend FuF (Stand 12.10.22).

Seit wann wird über medial verursachte Massenhysterien bzw. Massenkrankheiten berichtet?

Bereits 2006 beobachteten Psychologen eine medial verursachte Massenkrankheit: Hunderte portugiesische Jugendliche wurden zeitgleich mit Schwindel, Hautausschlägen und Atembeschwerden in Krankenhäusern aufgenommen. Der gemeinsame Nenner: eine zu dem Zeitpunkt im Fernsehen ausgestrahlte Seifenoper, in welcher einer der Protagonisten die genannten Symptome fiktiv darstellte.

Wie beeinflussen soziale Netzwerke unsere Emotionen, Meinungen und unser Verhalten?

Ende 2021 veröffentlichte eine Whistleblowerin interne Dokumente des Meta-Konzerns (ehemals „Facebook“), welche belegen sollten, wie schädlich Facebook und vor allem Instagram für die Psyche von Jugendlichen sind. Ein Auszug: Instagram fördert Depression und Angstzustände, verschlechtert Schlaf, fördert Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper sowie eine toxische Gesprächskultur. Aber nicht nur Instagram, sondern auch andere soziale Netzwerke können diese Effekte haben: Eine US-Studie zeigte 2017, dass Zustände wie Angstattacken oder Depression davon abhängen, auf wie vielen Netzwerken eine Nutzerin oder ein Nutzer unterwegs ist – nicht nur davon, wie viel Zeit man verbringt. Über den Zusammenhang zwischen negativen Emotionen und der Nutzung sozialer Medien ist sich die Wissenschaft noch nicht einig: Offen ist die Frage, ob ein kausaler oder nur korrelierender Zusammenhang besteht.

Soziale Netzwerke sind auch ein relevanter Einflussfaktor für die Bildung von Meinungen. Das zeigten Studien zur Bildung von Massenmeinungen durch bestimmte Netzwerkeffekte. Einer dieser Effekte – das sogenannte Freundschaftsparadoxon – besagt, dass Personen mit größerer Bekanntheit und mehr sozialen Vernetzungen mehr Informationsmacht besitzen als durchschnittliche Personen. Auch wenn die Mehrheit einer Gruppe anderer Meinung ist, wird die Meinung von besser vernetzten Personen als relevanter eingeschätzt. Dies kann die Wahrnehmung der real vorherrschenden Meinung verzerren. Die Forscher sprechen von einer Mehrheits-Illusion. Firmen nutzen deshalb gezielt Influencer-Kampagnen, um das Kaufverhalten bestimmter Personengruppen (mit bestimmten demografischen Eigenschaften) gezielt zu beeinflussen. Darüber hinaus nutzen Firmen allerhand Techniken aus der Neuromarketing-Trickkiste: Emotional Targeting, Behaviour Pattern oder der Decoy Effekt (engl. „Lockvogel-Effekt“), werden neben Webshops ebenso in sozialen Netzwerken eingesetzt.

Nicht nur Modehersteller oder Drogerieketten nutzen genannte Mechanismen, um das Verhalten ihrer Zielgruppe zu beeinflussen. Auch politische Akteure setzen sogenanntes Micro-Targeting in sozialen Medien ein, um Wahlentscheidungen für sich zu gewinnen. Bekannt wurde diese Methode vor allem im Zusammenhang mit dem Cambridge Analytica-Skandal, bei dem die US-Wahl 2016 mithilfe von Big Data, Bots, Psychografie und Micro-Targeting zugunsten Donald Trumps beeinflusst wurde. Zwar streiten sich Fachleute darüber, ob genannte Techniken wirklich der Auslöser für die Wahlergebnisse von 2016 waren. Dennoch macht die Berichterkennung sichtbar, in welche Richtung sich die Marketingtechnik entwickelt: hin zur Big Data-gestützten Verhaltensbeeinflussung.

Welche Rolle spielen parasoziale Beziehungen?

Ein weiterer Faktor, der die sozialen Bindungen zwischen Content Creatorinnen und Creatoren sowie FuF stärkt, wird in der psychologischen Forschung als parasoziale Beziehung beschrieben. Diese Art von Beziehung beschreibt eine Situation, in der

„die Medienperson die Kommunikation so gestaltet, dass sich der einzelne aus der Community direkt angesprochen fühlt, obwohl generell zu einer breiten Masse gesprochen wird […] Man fiebert mit, fühlt sich persönlich adressiert und baut mehr oder weniger unwissentlich eine Beziehung auf“.

Bei dieser Form der Kommunikation verschwimmt die Grenze zwischen Individual- und Massenkommunikation – wodurch das wirtschaftliche Interesse der Medienperson leichter verschleiert werden kann. Durch die „Illusion von Intimität“ u. a. durch Live-Streaming auf Twitch, Stitches oder Fragen & Antworten auf TikTok sowie Umfragen auf Instagram entsteht eine Art „Safe Space“, in der die Beziehung „zwischen Follower*innenschaft und Persona […] nicht mehr eindeutig einseitig“ ist. Die (scheinbare) Intimität kann sogar so weit führen, dass FuF die Verhaltensweisen der Medienperson nachahmen oder sogar versuchen, sie persönlich zu treffen

Studien haben die Auswirkungen solcher Beziehungen untersucht: Parasoziale Beziehungen können sich zwar durch Selbstvergleiche negativ auf die psychische Gesundheit von FuF auswirken. Sie können aber auch deren

  • Einstellungen und Verhaltensweisen zur Gesundheit fördern,
  • gesundheitsbezogene Stigmatisierung verringern,
  • das Gefühl von Verbundenheit und Gemeinschaft verstärken,
  • sowie die persönliche Entwicklung und Identitätsfindung fördern.

Fazit: Henne oder Ei? Tics oder TikTok? Was kam zuerst?

Zusammenfassend erkennt man, wie stark soziale Medien die Gruppenzugehörigkeit sowie das soziale Handeln von Individuen fördern. Belegt wurde auch mehrfach, wie stark sie Emotionen, Meinungen und Verhalten beeinflussen – zumal parapsychologische Beziehungen diese Effekte (wie das Imitieren von Verhalten) noch verstärken. All das bekräftigt die Vermutung, dass das Phänomen der Massenhysterie oder Massenkrankheit auch durch soziale Netzwerke auftreten kann.   

Kritiker weisen darauf hin, dass die Zunahme von Tics sowie die Nutzung sozialer Netzwerke unter Heranwachsenden gleichzeitig zwar beobachtet werden, deshalb aber noch lange kein kausaler Zusammenhang bestehen muss. Schließlich würden YouTube sowie TikTok zu den meistgenutzten Informationskanälen von Heranwachsenden zählen. Wahrscheinlich sind Angstzustände, welche Pandemie-bedingt stark zugenommen haben, der Hauptauslöser für funktionalen Störungen. Vermutet werden könnte ja, dass die Jugendlichen sich erst nach der Entwicklung ihrer Symptome auf sozialen Medien informieren und dann erst auf die (sehr prominenten) Darstellungen im Kanal von Gewitter im Kopf stoßen.

Demgegenüber steht die Beobachtung, dass in den oben beschriebenen medial verursachten Massenkrankheiten die Symptome im Einzelfall nachließen, als der mediale Konsum (generell oder im oben beschriebenen Fall von Tic-bezogenen Inhalten) eingeschränkt wurde. So empfiehlt eine Arbeitsgruppe auf der Tourette Gesellschaft Deutschland-Seite, „dass Personen mit FNSoder [sic!] mit schlimmeren Tic-Symptomen in Erwägung ziehen sollten, den Konsum von Tic-bezogenen Inhalten zu reduzieren“. Zwar könnten soziale Medien für Betroffene eine „unterstützende Gemeinschaft“ herstellen. Dennoch kann die „Verringerung des Konsums von Tic-Videos […] auch die Wahrscheinlichkeit einer Genesung, wenn man eine Verhaltenstherapie und Behandlung erhält“, erhöhen. Eine Theorie wäre durchaus, dass die Medienabstinenz sich positiv auf die Angstzustände auswirkt, was wiederum die funktionalen Störungen lindert.

Stand: Oktober 2022

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