Wie kommen Familien gut durch den Lockdown | Ideen und Anregungen

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Wie kommen Familien gut durch den Lockdown | Ideen und Anregungen

Wie kommen Familien gut durch den Lockdown? Ideen und Anregungen für den Alltag – mit und ohne digitale Medien

Kind sitzt vor dem Laptop neben den Klassenheften und schaut verzweifelt aus.
Lockdown Wie können Eltern und Erziehende mit der Situation umgehen?

Wie leiden Kinder und Jugendliche unter Heimunterricht und fehlenden sozialen Kontakten? Wie können Eltern und Erziehende mit der Situation umgehen? Darüber unterhielten wir uns im Kindermedienland-Talk mit Dr. Sabine Schenkl und einer Mutter zweier Kinder. Hier eine Zusammenfassung ihrer Anregungen.

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    Mai 2021: Wie war die Lage nach einem Jahr Pandemie?
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    Ideen und Lösungen
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    Und was tun mit den digitalen Medien?
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    Beratungsangebote

Mai 2021: Wie war die Lage nach einem Jahr Pandemie?

Dieser Satz hat es in sich: „Es ist deutlicher schwieriger geworden, die Kinder zu einem fröhlichen Leben zu motivieren“, sagte Julia, die bereits – wie viele Eltern deutschlandweit – seit Monaten im Home-Office arbeitete und gleichzeitig die Kinder beim Fernunterricht unterstützte. In unserem Video-Talk berichtete die zweifache Mutter über das Auf und Ab im monatelangen Ausnahmezustand. Am meisten litten ihre Kinder unter den fehlenden sozialen Kontakten mit Gleichaltrigen. Zwar spielten die Kinder weiterhin draußen, aber Kinder derselben Altersstufe sind in der Nachbarschaft Mangelware. Sie beobachtete, dass sich Klassenkamerad*innen der Kinder zunehmend abschotten. Ein reales Treffen zum gemeinsamen Spielen, Kicken oder Zocken war sehr selten geworden und nur nach vorherigen Tests möglich.

Zuwachs von Lernschwierigkeiten und Essstörungen

Kinder- und Jugendpsychiaterin Dr. Sabine Schenkl kennt aus der eigenen Sprechstunde viele Familien, in denen Lernschwierigkeiten oder Essstörungen bei den Kindern zunahmen. Die zunehmenden Essstörungen waren u. a. darauf zurückzuführen, dass vor allem Mädchen den erlebten Kontrollverlust und die Verunsicherung durch starke Gewichtskontrolle ausgleichen wollten. Bei vielen Heranwachsenden führten auch die fehlende Bewegung sowie der häufigere Griff zu zuckerreichen Snacks zu einer Gewichtszunahme.

Da soziale Kontakte für die gesunde Entwicklung der Heranwachsenden förderlich sind, bedeutet Fernunterricht, dass ihnen ein bedeutender stabilisierender Faktor fehlte. Kinder beklagten deshalb, dass sie die sonst „verhasste“ Schule und die Lehrkräfte vermissen als den Ort, an dem man Fragen stellen kann, der eine Struktur gibt und an dem man seine Freunde trifft.

Fernunterricht ohne Zukunftsaussichten? Selbstmotivation adé!

Heimunterricht bedeutete für viele, sich alles selbst erarbeiten zu müssen, ohne zu wissen, was einen in der Zukunft erwartet. Dieser hohe Leistungsdruck ohne ausreichendes soziales Feedback frustrierte viele Jugendliche. Dr. Schenkl berichtete davon, dass bei vielen Heranwachsenden die Selbstmotivation nachlasse und von Fällen, bei denen die Mütter „ihren Kindern jeden Morgen den Laptop ans Bett brachten, um am Unterricht teilzunehmen“. Um den Online-Unterricht zu schwänzen, wurden Jugendliche erfinderisch, täuschten technische Störungen vor oder ließen sich krankmelden. Fernunterricht hatte die Eigenschaft, dass er schwache Schüler*innen noch schwächer macht. Für introvertierte Kinder war es eine Qual, sich vor der Gruppe im Video-Chat zu präsentieren. Und für Heranwachsende mit Aufmerksamkeitsschwierigkeiten war die nächstbeste Ablenkung nur einen Klick weit entfernt – auf YouTube, Twitch oder TikTok, wo Kinder deutlich mehr Selbstwirksamkeit und Hilfestellung erfahren als im realen Leben.

Schwere Prioritätensetzung: Doppelbelastung bei den Eltern

Und die Erwachsenen? Die hatten seit Monaten unter der Doppelbelastung zu kämpfen. Eine Mutter, die sich bei Dr. Sabine Schenkl Rat holte, bringt das Dilemma auf den Punkt: „Ich wollte ja im Home-Office arbeiten. Doch ständig stand mein Sohn in der Tür und wollte irgendetwas!“ Auch Julia kennt das Problem, ständig abwägen zu müssen, welches Problem gerade wichtiger ist – ihre Arbeit oder ihre Kinder. Denn die direkte Nähe zu den Kindern führte selbstverständlich dazu, dass die Eltern auch öfter angesprochen wurden – egal ob sie gerade im Home-Office arbeiteten oder nicht. Zudem stellte Julia fest, dass sich Familien im Bekanntenkreis zunehmend in ihrer eigenen Welt abkapseln und die sozialen Beziehungen immer loser werden.

Ideen und Lösungen

Für Dr. Schenkl haben diejenigen, die bereits vor der Pandemie mit psychischen Belastungen zu kämpfen hatten, einen Vorsprung. Sie verfügen schon über Instrumente, mit Belastungen besser umzugehen.

Hilfe holen

Laut Dr. Schenkls Erfahrungen tun sich Familien, die einen höheren Bildungsgrad haben und über ein besseres soziales Hilfesystem verfügen, leichter dabei, mit den zunehmenden Belastungen umzugehen. Insbesondere die Unterstützung von außen trägt maßgeblich dazu bei, mit schwereren Situationen umzugehen. Leider tendieren viele Menschen dazu, mit ihren psychischen Problemen allein klarkommen zu wollen, da diese gesellschaftlich häufig stigmatisiert werden. Dabei wird oft verkannt, wie hilfreich es ist, sich mit seinen Belastungen nach außen zu wenden und sich helfen zu lassen. Unterstützung erhalten Familien nicht nur bei Expert*innen wie Familienhelfer*innen, Psycholog*innen und Seelsorger*innen. Auch Freunde oder Familienmitglieder können einem dabei helfen, eine stabile Verfassung zu erreichen und einen Maßnahmenplan zu entwickeln, wie sich die steigende Belastung bewältigen oder verringern lässt.

Fantasie

Dr. Sabine Schenkl stellt oft fest, dass es Familien an Vorstellungskraft und Fantasie fehlt, wie sich Konflikte lösen lassen. Dazu ist es aber nötig, altbekannte Routinen und Abläufe infrage zu stellen und durch neue Umgangsformen zu ersetzen. Vor allem junge Familienmitglieder freuen sich über Abwechslung, insbesondere jetzt, da der Alltag noch langweiliger erscheint. Ein Junge, mit dem Dr. Schenkl neulich sprach, war überglücklich, dass – dank der Pandemie – seine Eltern sich endlich mal wieder Zeit für einen gemeinsamen Besuch im Zoo genommen hatten.

Reflexion

Bei einigen ihrer Patient*innen vermisst Dr. Schenkl die Fähigkeit zu reflektieren, wo man Schwächen oder Stärken hat und wo die eigene Belastungsgrenze liegt. Die Selbstreflexion ist der erste Schritt, um zu erkennen, welche Bedürfnisse brachliegen und welche Stellschrauben existieren. Zur Reflexion werden aber Zeit und Rückzugsorte benötigt, welche erst durch bewusste Zensuren und Pausen eingerichtet werden – was zum nächsten Punkt führt:

Struktur und Pausen für den Alltag

Wenn man mehr „aufeinander hockt“, kommt es häufiger zu Streitereien, Machtkämpfen und Missverständnissen. Umso wichtiger ist, dass ein Zuhause zu einem sicheren Ort mit klaren Strukturen und Abläufen wird, auf die sich jeder verlassen kann. Hilfreich sind Tages- und Wochenpläne, auf denen steht, wann Mahlzeiten, Hausaufgaben, Freizeitaktivitäten und regelmäßige Pausen eingeplant sind. Auch die Arbeitszeiten der Eltern oder die wöchentliche Speisekarte kann im Voraus eingeplant und aufgeschrieben werden.

Familien als Team

Manche Familien lernen momentan, sich wieder mehr als Team statt als eine Gruppe von Individualist*innen zu verstehen – und die anderen Familienmitglieder bei ihren Problemen zu unterstützen. Talk-Gast Julia berichtet davon, wie sie gemeinsam mit ihren Kindern kocht und die Kinder nebenbei Rezepte lernen, die sie für die nächste Woche selbst übernehmen. Auch andere Familienaufgaben, wie die Gartenpflege oder das Reparieren kaputter Gegenstände macht gemeinsam mehr Spaß als allein.

Positiv kommunizieren

Eltern tun gut daran, in schwierigen Situationen auf negative Kommentare zu verzichten. Motzerei, Kritik an Staat und Schule mögen zwar kurzfristig entlasten, belasten aber auf Dauer das Familienklima. Stattdessen rät Dr. Schenkel den Eltern, dass sie lernen, sich den gewünschten Zustand auszumalen und herbeizureden. „Wir schaffen das!“, aus dem Munde einer Mutter klingt deutlich ermutigender als ein „Wie stellt ihr euch das vor?“. Genau diese Frage zu beantworten – indem man sich die Lösung eines Problems vorstellt, beeinflusst das Klima und die Kommunikation untereinander positiv. Eltern können versuchen – auch wenn es schwierig ist – den Kindern die Welt mit ihren Schattenseiten neu zu erklären. Durch die Empathie der Eltern für andere lernen Heranwachsende wieder selbst empathisch zu sein.

Sozialen Kontakten nachgehen

Wie wichtig soziale Kontakte sind, um die eigene Empathie zu fördern, beschreibt Dr. Schenkl in einer Warnung. Sie befürchtet, dass die fehlenden sozialen Kontakte dazu führen, dass bei Erwachsenen sowie Kindern soziale Fähigkeiten, wie das Streiten-Können oder Hilfsbereitschaft, abstumpfen. Diese verlernten Fähigkeiten müssten jetzt nach der Pandemie dringend wieder nachgeholt und neu erlernt werden.

Umso wichtiger war es, bereits bestehende Kontakte aufrechtzuerhalten, Freundschaften zu pflegen und neue Menschen kennenzulernen. Regelmäßige Anrufe oder Video-Konferenzen können zwar keine Grillabende ersetzen, sorgten aber trotzdem für Austausch und Anteilnahme. Auch praktische Unterstützung, z. B. beim Einkaufen oder bei der Hausaufgabenbetreuung per Videocall, kann soziale Kontakte verstärken.

Und was tun mit den digitalen Medien?

Klare Regeln & Kompromissbereitschaft

Eltern haben eine Leitplanken-Funktion, wenn es um die Mediennutzung geht. Sie müssen festlegen, welche Medien wann und wie oft genutzt werden. Dazu gehört auch das gemeinschaftliche Festlegen von Regeln – am besten mithilfe eines Mediennutzungsvertrages.

Nur auf Verbote zu setzen und harte Medienzeiten durchzusetzen macht aber angesichts der besonderen Situation, in der Kinder vor allem online soziale Kontakte pflegen, keinen Sinn. Hier gilt es Kompromisse einzugehen und für die Situation der Kinder empfänglich zu bleiben.

Im Gespräch bleiben & Problembewusstsein schaffen

Leider verfügen Heranwachsende über zu wenig Selbstkontrolle und Selbstreflexion, um die Mediennutzung eigenständig zu bändigen. Ihr hoher Energielevel kann zu durchgezockten Nächten und verquollenen Augen am Morgen danach führen. Kinder lernen nur, die Mediennutzung zu regulieren, wenn sie über ein gesundes Selbstwertgefühl, Problembewusstsein sowie ein intaktes soziales Netzwerk verfügen. Das Selbstwertgefühl hilft ihnen auf die eigene Kondition zu achten und Schlafen, Essen sowie Hygiene nicht zu vernachlässigen. Eltern sollten daher im Gespräch bleiben und ihren Kindern aufzeigen, dass zu langer Medienkonsum – vor allem nachts – ermüdend ist und sich auf die Leistungsfähigkeit auswirkt. Beispielsweise können Eltern mit ihren Kindern durchrechnen, wie viel Zeit für Schule, Schlafen, Essen, Bewegung verbraucht wird und was noch fürs Spielen übrigbleibt.

Statt Handyentzug: Verstehen, was hinter der exzessiven Mediennutzung steckt

Bei Handyentzug und Sperrungen des WLAN ist die Eskalation vorprogrammiert. Dr. Schenkl kennt Fälle, bei denen die Diskussionen bis zu häuslicher Gewalt und Inobhutnahme geführt haben. Weil die digitalen Medien für viel Konfliktpotenzial sorgen, gilt es vorab einen Rahmen zu vereinbaren, Kompromisse zu machen und zu verstehen, was für Heranwachsende die Mediennutzung bedeutet. Eltern müssen verstehen, dass Heranwachsende mithilfe von sozialen Netzwerken

  • Selbstwirksamkeit erleben,
  • soziale Beziehungen pflegen,
  • Anerkennung erlangen
  • und neue Erfahrungen machen.

Dies zu verstehen, macht es einfacher, auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen und Alternativen zu finden, wenn die Bedürfnisse nur noch mit dem Smartphone gestillt werden.

Unabhängige Berater mit einbeziehen

Wenn aufgrund der Mediennutzung das Konfliktpotenzial nicht nachlässt, lohnt es, sich von einer unabhängigen externen Person beraten zu lassen. So ein*e Mittelsfrau oder -mann muss nicht unbedingt ein*e Familientherapeut*in sein, sondern lässt sich auch im direkten Familienumfeld finden: z. B. die Patentante, welche als Webdesigner*in arbeitet, oder der ältere Cousin, der Informatik studiert. Als Respektsperson können solche Mittler einfacher einen Draht zu den Kindern finden und ihnen Tipps geben, wie sie ihre Mediennutzung unter Kontrolle bekommen.

Stand: August 2023

Weiterführende Informationen

Über den Autor

Christian Reinhold ist seit über 10 Jahren Redakteur der Initiative Kindermedienland. Privat fotografiert er leidenschaftlich gern und spielt Gitarre.