Squid Game | Warum Kinder gewaltverherrlichende Netflix-Serien nachspielen

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Squid Game | Warum Kinder gewaltverherrlichende Netflix-Serien nachspielen

Squid Game: Warum Kinder so gerne (gewaltverherrlichende Netflix-)Serien nachspielen

Ist die Netzflix Serie Squid Game für Kinder schädlich?
Netflix Was steckt überhaupt hinter „Squid Game“? Und wie kann ein mediales Ungetüm wie „Squid Game“ eine Chance sein? (Foto: Jonas Augustin | unsplash)

Seit Oktober 2021 läuft auf Netflix eine Serie, die seit „Bridgerton“, mit 111 Millionen Zugriffen in weniger als einem Monat jetzt schon als der erfolgreichste Neustart des Bezahlsenders gilt: „Squid Game“. Normalerweise erreichen – vor allem für das Alter ungeeignete –  Netflix-Trends selten die Kinderstube. Doch wenn Kinder Gewaltszenen aus „Squid Game“ auf dem Pausenhof nachspielen, in denen Verlierende von Kinderspielen hingerichtet werden, geraten Eltern in Schockstarre: Warum schauen Eltern zu Hause Inhalte, die ihre Kinder verstören? Und warum tut niemand was dagegen?

Wir wollen Eltern und Fachkräfte helfen, in einer diversen, konvergenten, risiken- und chancen-reichen Medienwelt zurechtzufinden. Doch was bedeutet „konvergent“? Wie kann ein mediales Ungetüm wie „Squid Game“ eine Chance sein? Und was steckt überhaupt hinter „Squid Game“?  

  1. 1
    Wovon handelt „Squid Game“?
  2. 2
    Ist „Squid Game“ eine Serie für Kinder?
  3. 3
    Was bedeutet „Medienkonvergenz“ im Fall von „Squid Game“?
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    Wie gelangen Kinder an Serien für Erwachsene?
  5. 5
    Was fasziniert Kinder an Gewalt? Und warum spielen sie solche Elemente nach?
  6. 6
    Bei uns zu Hause sind solche Serien verboten. Warum muss ich mich damit beschäftigen?
  7. 7
    Hinterlassen gewalthaltige Szenen und Geschichten bei Kindern bleibende Schäden?
  8. 8
    Wie können Eltern ihre Kinder vor medialer Gewalt schützen?
  9. 9
    Mein Kind hat bereits Szenen aus „Squid Game“ gesehen. Wie kann es das verarbeiten?
  10. 10
    Welche Chance bietet „Squid Game“?

Wovon handelt „Squid Game“?

Erwachsene, die ein Netflix-Abo haben, werden der Versuchung nicht widerstanden haben, dem jüngsten Serien-Trend auf den Leim zugehen und zumindest die Trailer anzuschauen. Für Eltern und Fachkräfte, die noch keine Ahnung haben, wovon „Squid Game“ handelt, wollen wir unsere hervorragenden FLIMMO-Kolleg*innen zitieren (Vorsicht: Spoiler!):

„In der Hoffnung auf ein hohes Preisgeld nimmt der hoch verschuldete Gi-hun an einem makabren Wettbewerb teil: In sechs Runden muss er sich gegen 455 Gegner*innen in bekannten Kinderspielen behaupten – wer verliert, kommt an Ort und Stelle brutal zu Tode. Am Ende gelingt es Gi-hun, alle Runden für sich zu entscheiden, was ihn nicht nur zum Sieger, sondern auch zum einzigen Überlebenden es Spiels macht.“

Ist „Squid Game“ eine Serie für Kinder?

FLIMMO sagt dazu:

„Die Serie ist sehr harte Kost und kann Kinder nachhaltig verstören. Vor allem die Verbindung von bekannten Kinderspielen und den blutigen, sadistischen Hinrichtungen kann Kinder erschrecken und Ängste auslösen.“

„Squid Game“ richtet sich – trotz der Altersempfehlung von „16 Jahren“, die von bekannten Filmkritikern als zu niedrig hinterfragt wurde – durch unzählige Elemente indirekt an Kinder: bekannte Kinder- und Computerspiele als Handlungsstrang, visuelle Elemente aus Video-Spielen (die Playstation-Buttons), die Trainingsuniformen der Protagonisten, überdimensionale Kinderpuppen, rosa-pinke Farbwelten, die sonst in Kinderserien vorkommen – all das sind Berührungspunkte, die an die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen anknüpfen. Aber auch die Themen auf der Meta-Ebene von „Squid Game“ kommen überproportional in klassischen Kinderfilmen vor: Freundschaft, Familie, Wettkampf, Überleben, Gut gegen Böse. „Squid Game“ ist damit aber kein Novum. Bereits 2012 lief ein hybrides Format in den Kinos, das sich gleichzeitig an Erwachsene wie Kinder richtet und Überlebensspiele thematisiert: Tribute von Panem.

Interessanterweise zählt die jetzige Elterngeneration zur ersten, die selbst mit Computerspielen bzw. einer Playstation aufgewachsen ist und die sich aufgrund eigener Erfahrungen mit „Squid Game“ identifizieren wird. Wenn sich Eltern für Gewaltfilme oder -games interessieren, während gleichzeitig Kinder davor bewahrt werden sollen, bringt dies ein Spannungsfeld. Kinder werden immer hinterfragen, warum Eltern etwas sehen oder spielen dürfen, was ihnen selbst verboten wird – und werden versuchen, am elterlichen Medienkonsum zu partizipieren.

Was bedeutet „Medienkonvergenz“ im Fall von „Squid Game“?

Das Phänomen „Squid Game“ ist ein hervorragendes Beispiel für die konvergente Medienwelt. Die sogenannte „Medienkonvergenz“ bedeutet, dass Medien wie Print, TV und Online immer mehr verschmelzen – oder dass man wie im Fall von „Netflix“ nicht nur von der „Fernseh-Serie“ sprechen darf.

Wenn eine Serie wie „Squid Game“ erfolgreich ist, verbreiten sich ihre Film-Schnipsel und -Trailer automatisch über die Netflix-Grenzen hinaus: auf YouTube, in Online-Magazinen, in Newslettern, auf Instagram- oder Tik-Tok-Kanälen, als Minecraft-Version, als Roblox-Variante, als GTA 5-Adaption, als Smartphone-App oder auch in WhatsApp-Gruppen – als Memes, Fotos oder Links, die auf Filmmaterial verlinken. Durch die virale Verbreitung im Internet werden ungehindert Kinder mit Inhalten konfrontiert, die laut Netflix-Altersempfehlung erst ab 16 geeignet sind. Und höchstwahrscheinlich wird eine „Computerspiel-Adaption“ sowie unzählige Merchandise-Artikel nicht auf sich warten lassen. Videos von Kindern, die den Squid-Game-Hinrichtungstanz choreografieren, lauern bereits auf YouTube.

Wie gelangen Kinder an Serien für Erwachsene?

Wie in Frage 3 beschrieben, führt die Verschmelzung der Medien sowie die Kopierbarkeit von Filmschnipseln dazu, dass sich Trends wie „Squid Game“ in Windeseile auf den Smartphones von Kindern verbreiten. Vor allem YouTuber, welche die Serie in "Let's Play"-Video z. B. auf Roblox nachspielen, tragen die Inhalte in Kinderwelten. Letztendlich ist jedes Kind mit einem Internet-fähigen Smartphone oder Tablet in der Lage, auf Google oder YouTube nach Fotos, Spielen und Videos zu suchen. Aber auch Gruppenzwang und Neugier unter Heranwachsenden führen zu ungewünschter Mund-zu-Mund-Propaganda oder sogar dazu, dass sie die Serie nachspielen und teilweise Gewalt-Elemente in ihren Alltag integrieren. Wie oben beschrieben, werden aber auch Eltern absichtlich oder unabsichtlich ihre Kinder mit „Squid Game“ konfrontieren, vor allem wenn sie sich selber dafür begeistern. Ein weiterer Grund ist technischer Natur: Kindern wird der Zugang zu „Squid Game“ leicht gemacht, sobald sie über ein gemeinsames Familienkonto auf Erwachsenen-Serien zugreifen dürfen.

Was fasziniert Kinder an Gewalt? Und warum spielen sie solche Elemente nach?

Wenn Kinder beim Spielen Gewalt thematisieren, drücken sie damit aus, inmitten einer fremdbestimmten Welt selbst wirksam zu sein. Das kann beim Töten von Ameisen genauso ausgelebt werden, wie bei mit Lego- oder Matchbox-Figuren inszenierten Massakern, bei Cowboy- und Indianer-Spielen oder beim Völkerball in der Schule. Beim spielerischen Töten erleben sich Kinder als starke Persönlichkeiten, die über die Geschicke anderer lenken können.

Auch das Nachspielen von Computerspielen bzw. Filmen oder in die Heldenrolle zu schlüpfen, ist völlig normal: Das Gesehene wird dadurch verarbeitet und weitergesponnen. In der Fantasie der Kinder vermischt sich die Filmwelt mit der Realität und echte Menschen werden mit Filmfiguren personifiziert. Kinder verarbeiten Filme mittels der Frage „Wie würde ich in der Situation des Filmhelden handeln?“ bzw. „Wie würde der Filmheld in meiner Situation handeln?“.

Ein weiterer Aspekt: Kinder experimentieren bei filmischer Gewalt mit ihrer Angst und mit der Frage „Wie viel halte ich aus?“. Und selbstverständlich steht dahinter der Wunsch zur Gruppe dazuzuzählen und zeigen zu können, dass man stark bzw. mutig genug ist.

Bei uns zu Hause sind solche Serien verboten. Warum muss ich mich damit beschäftigen?

Eltern, die ihre Kinder regelmäßig bei der Mediennutzung betreuen oder technische Sperren einsetzen, müssen trotzdem damit rechnen, dass ihre Kinder mit ungewünschten Inhalten konfrontiert werden. Das reicht von Werbebannern auf Spielseiten, über versteckter Werbung auf TikTok bis hin zur Kinderpornografie im Klassenchat. Rein technische Lösungen wie Inhaltsfilter, Jugendschutz-Apps oder Zeitschaltuhren können nicht verhindern, dass ältere Geschwister, Klassenkameraden oder Freunde ungeeignete, gewaltverherrlichende oder sexualisierte Inhalte weiterleiten oder auf ihren eigenen Geräten zeigen.

Eltern sollten verstehen, dass mitreden zu können und von der Peer-Group nicht ausgeschlossen zu werden für Kinder ein hohes Gut darstellt! Um zu beweisen, wie mutig sie sind, konsumieren oder verbreiten sie problematische oder gewalthaltige Inhalte. Kinder geben sogar regelmäßig damit an! Besorgte Eltern, die Kindern problematische Filme verbieten oder sogar technisch verweigern, gelten als peinlich und werden verschwiegen.

Verbote können deshalb dazu führen, dass Kinder heimlich verbotene Videos herunterladen oder sie verstecken. Darüber hinaus vertrauen Kinder, die Angst vor Strafen (vor allem vor Smartphone-Entzug) haben, eher unwahrscheinlich ihren Eltern an, dass sie Alpträume haben oder sie in der Schule als Mutprobe ein Handyvideo für Erwachsene anschauen sollten.

Hinterlassen gewalthaltige Szenen und Geschichten bei Kindern bleibende Schäden?

Wichtig: Kinder können bereits sehr früh virtuelle Gewalt von realer Gewalt unterscheiden! Dennoch können gewalthaltige Szenen und Handlungen überfordern und verunsichern – insbesondere bei Filmen, in denen nicht klar erkennbar ist, ob es sich um Fiktion oder wahre Begebenheiten handelt. Auch die fehlende Auflösung in Filmen, das Fehlen eines Happy Ends oder die Vorstellung, dass die fiktive Gewalt auch im wahren Leben eines Kindes auftauchen kann, sorgt bei Kindern zu Grübelei, Ängsten und Schlaflosigkeit. Laut einer Befragung unter knapp 1.500 Heranwachsenden hatte ein Drittel manchmal Alpträume aufgrund von Fernseherlebnissen.

Momo, ein viraler „Geist“, der unter Kindern per WhatsApp-Kettenbrief verschickt wurde, ist ein perfektes Beispiel dafür, wie mediale Darstellungen sich verbreiten und wirken können: Influencer und YouTuber verbreiten Gerüchte über eine vermeintliche Horrorgeschichte – um dadurch mehr Aufmerksamkeit zu generieren – und sorgen so für Neugier unter der jungen Zielgruppe. Heranwachsende wissen, dass es sich bei der Horrorgeschichte um etwas Verbotenes handelt und üben sich in Geheimnistuerei. Gegenüber Gleichaltrigen ist Zugehörigkeit und Anerkennung wichtig. Die Fotos werden verschickt und erlangen den Status einer Mutprobe. Die Momo-Horrorgeschichte – dass jemand Geliebtes stirbt, weil man die Nachricht nicht weiterschickt – kann von einem Schock bis hin zu einem Trauma führen. Betroffene Kinder neigen unter der psychischen Belastung zu Isolation und Selbstverweigerung.

Der Medienpädagogische Forschungsbund Südwest warnt davor, dass ein hoher Konsum medialer Gewalt abstumpft. Es könne durch die ständige Visualisierung von Gewalt abgeleitet werden, dass gewalttätiges Verhalten normal sei. Darüber hinaus bestehe die Gefahr, „dass, bei entsprechenden sozialen und individuellen Rahmenbedingungen im Alltag, Kinder und Jugendliche gewalttätige Verhaltensmuster aus dem Fernsehen lernen und übernehmen“.

Wie können Eltern ihre Kinder vor medialer Gewalt schützen?

Hier ein kurzer Maßnahmenplan:

  • Technischer Schutz: Jugendschutzeinstellungen an den Geräten und Apps vornehmen. Ein erster Schritt wären eigene Kinderprofile für das Netflix-Konto.
  • Regeln vereinbaren: mithilfe eines Mediennutzungsvertrages die Kinder miteinbeziehen, was sie sehen dürfen und was nicht.
  • (Jüngere) Kinder bei der Mediennutzung begleiten: gemeinsames Daddeln und Zocken oder Filme schauen.
  • Älteren Geschwistern klarmachen, dass sie gegenüber jüngeren Familienmitgliedern eine Verantwortung haben und nicht alle Filme für jüngere Kinder geeignet sind.
  • Im Gespräch bleiben: Interesse zeigen, Trost und Orientierung anbieten, aber nicht nerven oder ausquetschen.

Mein Kind hat bereits Szenen aus „Squid Game“ gesehen. Wie kann es das verarbeiten?

Die meisten Kinder verstehen, dass es sich bei den Gewaltszenen – ähnlich wie bei Computerspielen – um eine fiktive Darstellung handelt. Anders als bei Computerspielen und Filmen, die bereits für Kinder ab 12 erlaubt sind, fließt bei „Squid Game“ aber massig Blut und die Gewalt wird nicht aufgelöst. Beispielsweise werden Freunde dazu gezwungen, sich gegenseitig zu verraten und aufzuopfern. Das Drehbuch von „Squid Game“ ist ein Paradebeispiel dafür, dass Filme mit Dissonanzen und Widersprüchlichkeiten für deutlich mehr Aufmerksamkeit und Beachtung sorgen als Hollywood-Filme mit klassischem Happy End.

Die Dissonanzen und unbequemen Szenen, die bereits für Erwachsene schwer auszuhalten sind, können Heranwachsende noch stärker verunsichern und ihnen vermitteln, dass man aus dem „Kreislauf der Gewalt“ nicht ausbrechen kann. Insgeheim sind Jugendliche schockiert, aber fasziniert zugleich, schaffen es aber nicht, das Filmerlebnis richtig einzuordnen. Dennoch wollen sie zeigen, dass sie bereits stark sind und mit der fiktiven Gewalt allein umgehen können. Eltern sollten nicht mit Schuldzuweisung, Strafen oder Verboten reagieren, da diese den Rückzugseffekt noch verstärken.

Eltern sollten sich erkundigen, wovon „Squid Game“ handelt und was die Faszination daran ausmacht. Kinder, welche eine vertrauensvolle Beziehung zu ihren Eltern haben, werden in ihren Antworten herausblicken lassen, wie weit sie von „Squid Game“ verunsichert wurden. Eltern können zugeben, dass ihnen solche Szenen auch Angst machen und dass sie davon schockiert sind. Aber gleichzeitig auch vermitteln, dass Mut nicht im Aushalten von Gewalt besteht, sondern im Nein-Sagen, Abwenden oder Verhindern von Gewalt. Zu zeigen, dass ihre Familie ein sicherer und liebevoller Ort ist, in dem man Unterstützung erfährt, stärkt Kinder langfristig gegenüber medialer Verunsicherung.

Welche Chance bietet „Squid Game“?

„Squid Game“ bietet Eltern die Chance zu einem unbequemen Thema eine klare Haltung einzunehmen und den eigenen Medienkonsum zu hinterfragen. Auch die zerstörte Hoffnung, dass man Kinder durch Verbote und Restriktionen vor der bösen Medienwelt bewahrt, bietet eine Chance: Nämlich neu zu überlegen, welche Werte und Umgangsformen die eigene Familie ausmachen. Diese verkörpern ein wirkungsvolles Antidot für den Umgang mit problematischen und verstörenden Inhalten. Dass man miteinander gnädig oder freundlich umgeht, kontrastiert wirkungsvoll Filme, welche Gewalt und Selektion als Weltordnung porträtieren. Gleichzeitig fühlen sich Kinder in einem sicheren Hafen, wenn sie auf der großen weiten Medienwelt ins Wanken gekommen sind.   

Stand: August 2023

Weiterführende Informationen

Über den Autor

Christian Reinhold ist seit über 10 Jahren Redakteur der Initiative Kindermedienland. Privat fotografiert er leidenschaftlich gern und spielt Gitarre.