Kinder-Influencer: ein medienpädagogischer Glücksfall oder ein Fall für das Sozialamt?

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Kinder-Influencer: ein medienpädagogischer Glücksfall oder ein Fall für das Sozialamt?

Kinder-Influencer: ein medienpädagogischer Glücksfall oder ein Fall für das Sozialamt?

Kinder-Influencer Wenn Kinder oder deren Eltern als Influencer tätig sind, kann einiges schiefgehen.

12-Jährige, die Zahnpasta anpreisen, 14-Jährige mit Mode-Kooperationen, Kinder-Influencer mit Millionen von Followern: Sind das die medienkompetenten Kids von heute oder die verbrannten Jugendstars von morgen (so wie damals Lindsay Lohan, Macaulay Culkin und Drew Barrymore)? 

Bereits 2017 kritisierte der YouTuber Walulis die prominenter werdende Kinderarbeit unter Kinder-Influencern. Seitdem wurde das Thema regelmäßig von Influencerinnen und Influencern oder öffentlich-rechtlichen Sendern aufgegriffen und kritisch beleuchtet. Doch laut Anwalt Christian Solmecke (Einschätzung von 2021) wird sich an der Situation schnell nichts ändern: denn wo kein Kläger, da kein Richter.  

Insbesondere das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW) will sich für „die Schutzwürdigkeit der beteiligten Kinder, ihre Persönlichkeitsrechte, die Frage nach dem gesetzlichen Rahmen, der Regulierung bzw. Aufsicht sowie nach der Grenze zwischen Freizeitvergnügen und Kinderarbeit“ einsetzen. So schreiben deren Autorinnen und Autoren im Dossier „Zwischen Spielzeug, Kamera und YouTube - Wenn Kinder zu Influencern (gemacht) werden“:  

„Nicht selten verschwimmen [bei Kinder-Influencern] die Grenzen zwischen kreativer Freizeitbeschäftigung und Arbeit von Minderjährigen einerseits, zwischen Werbung und nicht-kommerziellen Inhalten andererseits“ 

Die Anklagen und Warnungen des DKHW scheinen in unserer Gesellschaft nicht überall Gehör zu finden. Es sind vornehmlich Influencer selbst, die für eine weniger aufgeregte Haltung plädieren. Das Reaction-Video von MontanaBlack veranschaulicht perfekt die Diskrepanz: Auf der einen Seite besorgte Pädagoginnen, die sich um das Kindeswohl und die Psyche von Kindern sorgen, welche unter dem Erwartungs- und Arbeitsdruck Schaden nehmen könnten – auf der anderen Seite ein erwachsener Influencer bzw. Eltern von Influencern, welche Kinder in ihrem Entfaltungs- und Selbstdarstellungswunsch unterstützen wollen.  

Dieser Beitrag will über Definitionen von Kinderarbeit aufklären, die positiven sowie negativen Seiten von Kinder-Influencern herausarbeiten, sowie überlegen, wie Jugendliche in einem gesunden Rahmen als Influencer aktiv sein könnten. 

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    Welche Rechte können im Fall von Kinder-Influencern verletzt werden?
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    Werden denn die Persönlichkeitsrechte von Kinder-Influencern verletzt?
  3. 3
    Wer ist für den Schutz von Persönlichkeitsrechten der Kinder verantwortlich?
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    Wer betreibt in der Regel rechtlich und wirtschaftlich die Kanäle der Kinder-Influencer?
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    Kann man von einem Interessenkonflikt sprechen?
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    Ist das schon Kinderarbeit?
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    Welche positiven Seiten könnten (theoretisch) aus der Situation entstehen?
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    Welche Gefahren kann das Kinder-Influencing mit sich bringen?
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    Wie könnte eine „saubere“ Influencer-Arbeit bei Jugendlichen aussehen?
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    Wie geht’s weiter?

Welche Rechte können im Fall von Kinder-Influencern verletzt werden?

Das DKHW schreibt, dass „kinderrechtlich betrachtet […] YouTube-Kanäle, in denen KinderInfluencer/innen die Protagonistinnen und Protagonisten sind, ein ganzes Sammelbecken von Rechtsverletzungen“ sind. Je nach Fall kann bei Minderjährigen mit einem reichweitenstarken Kanal das Recht auf Freizeit, das Recht auf Beteiligung, Anhörung und Berücksichtigung der Meinung sowie das Recht auf Privatsphäre und Intimsphäre verletzt werden. 

Werden denn die Persönlichkeitsrechte von Kinder-Influencern verletzt?

Laut Luise Meergans vom DKHW werden die privaten Rückzugsorte der Kinder – nämlich ihre Kinderzimmer zum Tatort tausender Schaulustiger. Folglich verletzen die Eltern regelmäßig die Privatsphäre oder bisweilen die Intimsphäre der Protagonisten, wenn Tausende von Zuschauerinnen und Zuschauern auf die Videos zugreifen können. Leider weiß laut Meergans noch keiner, welche Auswirkungen das auf die kindliche Entwicklung der Protagonisten haben wird – geschweige denn, dass klar ist, wer für diese Risikolage die Verantwortung trägt. 

Wer ist für den Schutz von Persönlichkeitsrechten der Kinder verantwortlich?

Jede Veröffentlichung von Fotos oder Videos von Kindern berührt deren Persönlichkeitsrechte, speziell das Recht am eigenen Bild sowie das Recht am eigenen Wort. Durch die Veröffentlichung in sozialen Netzwerken werden diese Rechte jeweils beeinträchtigt. Doch wer trägt dafür die Verantwortung? 

Träger dieser Persönlichkeitsrechte ist die abgebildete Person selbst, wodurch sie über die Entscheidung bzw. Einwilligung über das Aufnehmen und Verbreiten verfügt. Da Kinder noch zu jung sind, um die Tragweite der Veröffentlichungen bzw. deren Einwilligung zu verstehen, wird in der Rechtsprechung bei Kindern unter sieben Jahre die Entscheidungsverantwortung auf die Eltern übertragen. Bereits bei Kindern zwischen sieben und dreizehn Jahren geht man aber davon aus, „dass die Einwilligung in die Aufnahmen und deren Veröffentlichung im Internet nur dann rechtmäßig erteilt wurde, wenn Kind und Eltern sich einig sind“. Laut Medienrecht-Experten Stephan Dreyer begehen „Eltern, die Filmaufnahmen ohne das Wissen ihres Kindes oder gar gegen dessen Willen online stellen, […] Persönlichkeitsrechtsverletzungen, gegen die das Kind theoretisch vorgehen könnte“. 

Noch deutlicher ist das bei Aufnahmen aus dem Bereich der Intim- und Privatsphäre von Kindern (z. B. auf der Toilette, in Unterwäsche, bei Trauer oder Wut) – diese stellen deutliche Persönlichkeitsrechtsverletzungen dar und weisen bei Anfertigung (und Veröffentlichung) ohne Kenntnis des Kindes sogar eine strafrechtliche Relevanz auf. 

Wer betreibt in der Regel rechtlich und wirtschaftlich die Kanäle der Kinder-Influencer?

Laut den rechtlichen Grundlagen von Geschäftsfähigkeit – insbesondere bei Werbekooperationen – die Eltern. Verträge von Werbekooperationen dürfen nur von Volljährigen abgeschlossen werden. 

Kann man von einem Interessenkonflikt sprechen?

Diese Frage können die Eltern von Kinder-Influencern nur selbst beantworten. Die inneren Motive der Eltern sowie die Abwägung zwischen sozio-ökonomischen Gründen und der Privatsphäre der Kinder mag in jedem Fall anders aussehen. Im Fall von „Mileys Welt“, wenn laut Kritikern die wirtschaftliche Existenz der Familie „auf den Schultern“ einer Zehnjährigen lastet, gewinnt klar das wirtschaftliche Interesse gegenüber dem Interesse eines angemessenen Schutzes der Privatsphäre. 

Unter Influencern, die bereits ohne Kinder eine wirtschaftlich erfolgreiche Social Media-Karriere hinter sich haben, ist diese Haltung besonders verbreitet: Oguz Yilmaz – ehemals selbst erfolgreicher YouTuber bei Y-Titty – hat den Eindruck, dass neugeborene Kinder bei bereits aktiven Influencern der eigenen nachlassenden Reichweite nochmal einen Schub verleihen. Wenn das Interesse am eigenen Kanal sinkt, müssen laut Yilmaz „Kinder her, um diese gleich mitzuvermarkten“. Yilmaz größter Wunsch: dass Influencer-Eltern „ihre Kinder einfach Kinder sein lassen“. 

Ist das schon Kinderarbeit?

Zwar kann man sich darüber streiten, ob „vor der Kamera tanzen und ein paar Videos drehen“ eine Definition von Arbeit ist. Die Meinung, dass es sich dabei nicht um (harte, schweißtreibende) Arbeit handelt, hat einen Haken: Für Kooperationspartner vor der Kamera tanzen, dabei evtl. ein bestimmtes Briefing berücksichtigen und die Videos termingetreu zu posten und noch nebenher hunderte (oder tausende) von Kommentaren zu beantworten kann schnell in Arbeit ausarbeiten. So klagte die 14-jährige Influencerin Emilia in einem Spiegel-Online-Artikel von 2020, dass „viele unterschätzen, wie viel Arbeit das ist.“ 

Rein rechtlich ist Kinderarbeit in Deutschland verboten und nur in behördlichen Ausnahmefällen, welche durch das Jugendarbeitsschutzgesetz definiert sind, erlaubt. Für Kinder die an „Aufnahmen im Rundfunk (Hörfunk und Fernsehen), auf Ton- und Bildträgern sowie bei Film- und Fotoaufnahmen“ beteiligt sind, existieren strenge Vorgaben. Vorliegen müsste  

  • ein ärztliches Gutachten, 
  • ein schulisches Gutachten, 
  • eine Bescheinigung des Jugendamtes  
  • sowie des Gewerbeaufsichtsamtes.  

Im Falle von bekannteren Kanälen wurde bereits von den Gewerbeaufsichtsämtern vorgegeben und kontrolliert,  

  • wie viele Drehtage im Jahr erlaubt sind (maximal 30 ganze oder 60 halbe Arbeitstage im Fall von Mileys Welt
  • wie viele Stunden pro Tag erlaubt sind (je nach Alter zwei bis drei Stunden am Tag mit 14 Stunden Freizeit danach) 
  • welche Darstellungen nicht gefilmt oder veröffentlicht werden dürfen (z. B. im Swimmingpool) 

Vertreter eines Gewerbeaufsichtsamtes bestätigten aber den Autoren des DKHWs, dass YouTuber als Beteiligte an (potenzieller) Kinderarbeit oftmals unter dem Radar fliegen. 

Welche positiven Seiten könnten (theoretisch) aus der Situation entstehen?

Aus Sicht der Influencer-Familien mögen die positiven Seiten klar hervorstechen: Kinder bekommen attraktive Geschenke, teure Klamotten, reisen zu interessanten Events oder Locations – und ständig verbringen sie Zeit mit ihren Eltern! Welches Kind träumt nicht davon, dass es die volle Aufmerksamkeit der Eltern bekommt, diese es loben und anspornen (und ihm das Gefühl vermitteln, durch den potenziellen Erfolg die Familie auch finanziell unterstützen zu können). Eltern von Influencer-Kindern mögen argumentieren, dass dadurch die Eltern-Kind-Beziehung gestärkt wird und das Selbstbewusstsein des Kindes einen Schub bekommt, da dieses das Gefühl bekommt, eine besondere Fähigkeit zu besitzen. Doch wie es hinter den Kulissen (und in der Gefühlswelt des Kindes) aussieht, steht auf einem anderen Blatt. 

Aus medienpädagogischer Sicht könnte sogar behauptet werden, dass die Eltern von Kinder-Influencern im Idealfall genau das tun, was seit Jahren gepredigt wird:  

  • Sie lassen sich die Medienaktivitäten der Kinder zeigen. 
  • Sie sprechen mit ihnen darüber, was online passiert. 
  • Sie thematisieren die potenziellen Risiken. 
  • Sie nutzen Medien zusammen bzw. lassen die Kinder beim Medienkonsum nicht allein. 
  • Sie stehen als Ansprechpartner bei Problemen bereit. 
  • Sie legen Medienzeiten fest. 

Darüber hinaus kann durch die aktive Medienarbeit in der Familie unfreiwillig die Medienkompetenz der Heranwachsenden geschult werden: 

  • Sie lernen Medien zu produzieren. 
  • Sie lernen, den medialen Kontext zu verstehen. 
  • Sie lernen, gekonnt mit den Schattenseiten des Internets umzugehen. 
  • Sie lernen, sich medial gekonnt auszudrücken. 

Diese Argumente sollen keinesfalls als Schönfärberei verstanden werden, sondern als Versuch, die positiven Seiten (im Idealfall, wenn Eltern am Kindeswohl interessiert sind) darzustellen. Die genannten positiven Punkte sollten selbstverständlich ohne einen wirtschaftlich orientierten Instagram- oder TikTok-Kanal möglich sein. 

Welche Gefahren kann das Kinder-Influencing mit sich bringen?

Wie bei jungen Sporttalenten, Musikgenies und Überbegabten kann auch bei influencenden Kindern die mediale Aufmerksamkeit ihre Schattenseiten mit sich bringen: Neid, Ausgrenzung, Überbelastung, Selbstzweifel, bis hin zur Depression.  

Die ständige Exposition im Internet hat eindeutig rechtliche Schattenseiten. TikTok-Star Herr Anwalt warnt davor, dass manche Eltern die „Büchse der Pandora öffnen“, wenn sie „ständig die Gesichter der Sprösslinge in ihren Videos zeigen“. Herr Anwalt empfiehlt aufgrund der unabsehbaren Reichweite und Öffentlichkeit, dass Kinder nicht bei den alltäglichen Dingen des Lebens (wie in der „Truman Show”) überwacht werden sollten, sondern dass sie Möglichkeit haben dürfen, sich frei entfalten zu können

In den kritischen Berichten wurde vor zahlreichen Risiken gewarnt, u. a. 

  • Überlastung der Kinder, 
  • missbräuchliche Eltern-Kind-Beziehung,  
  • emotionaler Missbrauch (Druck erzeugen, Kinder für den „Erfolg“ verantwortlich machen), 
  • unbeabsichtigte Verbreitung kinderpornografischen Materials bzw. von Material, das von Pädophilen missbraucht werden kann, 
  • und Verletzung der Kennzeichnungspflicht von Werbung, mit rechtlichen Konsequenzen. 

Wie könnte eine „saubere“ Influencer-Arbeit bei Jugendlichen aussehen?

Für Kinder, die für Filmproduktionen oder Musikaufführungen tätig sind, existieren wie oben beschrieben bereits rechtliche Regulierungen. Leider beeinflussen maßgeblich die Eltern, ob diese auch eingehalten werden. Weil aber – anders als bei Filmproduktionen oder Werbeaufnahmen – die Kommunikation auf sozialen Medien über unzählige Rückkanäle verfügt und hochgeladenes Material viel einfacher (im Dark Web oder Fotoplattformen) weitergeleitet werden kann, sollte generell über eine Altersgrenze nachgedacht werden. 

Empfohlen werden könnte eine klare Altersgrenze für wirtschaftlich orientierte Tätigkeiten auf sozialen Netzwerken ab 13 oder 14 Jahren (zumal in Nutzungsbedingungen von z. B. TikTok oder Instagram dieses Mindestalter angegeben wird). Schließlich darf von jüngeren Kindern schwer verlangt werden, die komplizierten Beziehungen von Influencern und Followern zu verstehen und dass sie souverän mit deren Auswirkungen umgehen.  

Darüber hinaus müssten Eltern folgende Kriterien einhalten: 

  • Gedreht wird nur freiwillig, wenn der Nachwuchs Lust hat und auf was er Lust hat. 
  • Schulische Aktivitäten sowie die Zeit mit Freunden haben Vorrang vor Influencer-Tätigkeiten. 
  • Leistungsdruck ist untersagt, eine gesunde Esskultur wird praktiziert: Essstörungen darf kein Raum gegeben werden.
  • Schutzrechte gehen vor Beteiligungsrechte (also das Recht auf Privatsphäre geht vor das Recht auf mediale Beteiligung). 
  • Privatsphäre muss konsequent geschützt werden (keine Aufnahmen im Kinderzimmer, bei emotionalen Momenten, im Krankenhaus, beim Arzt, Zähneputzen, Bad, etc.). 
  • Aus den Veröffentlichungen sollte kein Rückschluss auf Wohn- oder Schulort möglich sein.
  • Heranwachsende und Eltern entscheiden gemeinsam über eine Veröffentlichung (Doppelzuständigkeit für die Einwilligung zur Veröffentlichung ab 14 Jahren).  
  • Eingeschränkte oder deaktivierte Kommentarfunktion. 
  • Beachtung der Kennzeichnungspflicht bei Werbung. 
  • Nur solche Aufnahmen werden angefertigt und veröffentlicht, welche deren Sexualisierung erschweren bzw. verhindern.  

Letzter Punkt wird technisch immer schwieriger zu gewährleisten sein. AI-Bildgeneratoren sowie Generatoren von Deepfakes ermöglichen mit jedem x-beliebigen Fotos die Erstellung pornografischen Materials (in dem der Kopf oder das Gesicht auf ebensolches Material „aufgeklebt“ wird). Dessen sind sich Kinder (und oftmals auch die Eltern) nicht bewusst. Dieses Risiko geht jeder ein, der persönliche Fotos in sozialen Netzwerken hochlädt – egal ob aus wirtschaftlichem oder privatem Interesse. 

In Frankreich wurde bereits 2020 ein Gesetzesentwurf zum Schutz von Kinder-Influencern verabschiedet, welcher genauere Richtlinien festlegt: Gewinne aus der Influencer-Arbeit müssen die Eltern bis zum 16. Lebensjahr der Kinder auf ein Treuhandkonto packen. Darüber hinaus erhalten die Heranwachsenden ein gesondertes "Recht auf Vergessen", was ihnen ermöglicht in Zukunft die Löschung älterer Inhalte zu erwirken. Für die französischen Kinder-Influencer muss darüber hinaus eine Einwilligung örtlicher Behörden vorliegen.

Die Autoren des DKHW-Dossiers vermuten insgesamt, dass die meisten Eltern von Influencern aus Unwissenheit handeln und viele technische oder rechtliche Aspekte erst im Laufe ihres öffentlichkeitswirksamen Handelns verstehen. Daher empfehlen die Autoren dringend, insgesamt die Medienkompetenz der Eltern zu stärken. 

Wie geht’s weiter?

Dass Kinder davon träumen, im Rampenlicht zu stehen, ist keine Erfindung der digitalen Welt. Welcher Jugendliche in den 70er oder 80er Jahren träumte nicht davon, ein berühmter Rockstar oder Fußballer zu werden – und ging diesem Traum in Form des Fußballvereins oder der Rockband nach? Verändert hat sich, dass aufgrund der Netzwerke-Effekte ein viel größeres Publikum schneller erreicht werden kann als bei damaligen Auftritten im Jugendhaus oder Kreisligaspielen. Was diese extreme Publizität bei Heranwachsenden anrichtet, wurde bislang nicht empirisch untersucht – und kann nur anekdotisch durch die Erfahrungen früherer Kinderstars erahnt werden. 

Die öffentliche Debatte über die Kinder-Influencer hat kurzfristig betrachtet den beteiligten Kindern ein Bärendienst erwiesen. Die Kritik an deren Eltern, ihr Wohl zu missachten oder sie medial zu missbrauchen, treibt zuallererst einen Keil zwischen Eltern und Kinder. Darüber lastet auch ihre „Mitschuld“ an der Situation stärker auf ihnen, was Selbstzweifel noch verschlimmern kann. Bin ich schuld daran, dass meine Eltern als Rabeneltern bezeichnet werden? Haben mich meine Eltern belogen? All diese Fragen können schwer auf dem Gewissen eines Kindes lasten. Erst als reifer Erwachsener kann die Verarbeitung dieses „Traumas“ – mit professioneller Hilfe – gelingen. Die kritischen Berichte bewirken aber zweifelslos, dass die Gesellschaft das Thema Influencing kritischer betrachtet und kann evtl. ambitionierte Eltern zur Besinnung bringen.  

Das grundlegende Problem – dass wir uns als Gesellschaft immer mehr daran gewöhnen, unter Dauerbeobachtung zu stehen bzw. unsere Privatsphäre mit Unbekannten teilen zu können – wird durch die Kritik an Influencer-Familien nicht beseitigt. Hier müsste (in Bildungseinrichtungen, Vereinen, Familien) ein tiefer gehendes Verständnis von den Implikationen von Datenschutz, Privatsphäre und komplizierten – teils parasozialenBeziehungen der Onlinewelt geschaffen werden.  

Für (influencende) Eltern gelingt das nur, wenn sie sich auf ihre Vorbildwirkung rückbesinnen und versuchen, souverän mit Medien und ihrer Öffentlichkeit umzugehen – was auch bedeuten kann, gegen den (gefühlten) Strom zu schwimmen. Entziehe ich mich Instagram, wenn da all meine Freundinnen drauf sind? Gestatte ich meinem Kind die Nutzung von TikTok erst ab dem erlaubten Alter von 13 Jahren und achte explizit auf die richtigen Einstellungen? Organisiere ich einen gemeinsamen Spieleabend, wenn doch das Netflix-Programm verlockender scheint? Die Antwort darauf wird für die Entwicklung unsere Kinder und unserer Gesellschaft entscheidend sein. 

Stand: November 2022

Weiterführende Informationen

Über den Autor

Christian Reinhold ist seit über 10 Jahren Redakteur der Initiative Kindermedienland. Privat fotografiert er leidenschaftlich gern und spielt Gitarre.