Parasoziale Beziehungen mit Influencern: ein Phänomen, ein Geschäftsmodell oder eine billige Masche?

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Parasoziale Beziehungen mit Influencern: ein Phänomen, ein Geschäftsmodell oder eine billige Masche?

Parasoziale Beziehungen mit Influencern: ein Phänomen, ein Geschäftsmodell oder eine billige Masche?

Parasoziale Beziehungen Wie unschuldig sind parasoziale Beziehungen im Influencer-Zeitalter? (Foto: AQVIEWS  | unsplash) 

Parasoziale Beziehungen existieren nicht erst seit Instagram, YouTube und Co. Bereits bei traditionellen Medien wie der Klatschpresse, Romanen oder bei Daily Soaps wurde dieses Phänomen untersucht. Doch wie unschuldig sind parasoziale Beziehungen im Influencer-Zeitalter?

Immer mehr Influencerinnen und Influencer berichten davon, wie sie von Fans in ihren Wohnorten aufgesucht oder belästigt werden. Der medial bekannteste Fall davon handelt vom YouTuber DrachenLord: Rainer Winkler, so sein bürgerlicher Name, wurde von seinen Fans regelmäßig in seinem Privatdomizil aufgelauert, angegriffen und gepeinigt – und letztendlich vor Gericht für ein Jahr auf Bewährung verurteilt, da er sich handgreiflich wehrte. Aber auch deutlich weniger kontroverse Influencerinnen und Influencer wurden bereits in ihren Wohnstätten belästigt.  

Wenn man von parasozialen Beziehungen redet, muss man andererseits die negativen Auswirkungen auf Seiten der (z. T. noch heranwachsenden) Fans thematisieren. Die Medienpädagogen von webhelm.de schreiben dazu: Parasoziale Beziehungen sind „besonders im Kinder- und Jugendalter relevant“, da Influencer in Zeiten von Instabilität so etwas wie eine „Orientierungshilfe für die eigene Identität“ anbieten. Das Risiko ist in diesem Lebensabschnitt leider höher, Influencern gegenüber unkritisch zu bleiben, deren teils fragwürdige Meinungsbilder zu übernehmen oder deren Produktempfehlungen Glauben zu schenken.

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    Seit wann sind parasoziale Beziehungen als mediales Phänomen bekannt?
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    Welche Stufen einer parasozialen Beziehung existieren?
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    Wer ist für parasoziale Beziehungen anfällig?
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    Was geschieht in unserer Psyche bei parasozialen Beziehungen?
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    Wie entwickeln sich parasoziale Beziehungen mit Influencerinnen und Influencern?
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    Welche Faktoren fördern eine parasoziale Beziehung?
  7. 7
    Sind parasoziale Beziehungen gefährlich?
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    Tipps im Umgang mit parasozialen Beziehungen

Seit wann sind parasoziale Beziehungen als mediales Phänomen bekannt?

Bereits in den 50er Jahren wurde neben dem Konzept der parasozialen Beziehung auch der Begriff „parasoziale Interaktion“ eingeführt, welcher ein „gemeines Geben und Nehmen“ zwischen einem Mediennutzer und einer Medienperson beschreibt. Darüber hinaus entstand der Begriff der „parasozialen Bindung“, welcher beschreibt, dass die Medienperson als Quelle von Trost, Sicherheit und sicherer Hafen wahrgenommen wird. Grob gesagt, kann durch wiederholte parasoziale Interaktion eine parasoziale Beziehung entstehen, die bei weiterer Vertiefung in eine parasoziale Bindung mündet.

Welche Stufen einer parasozialen Beziehung existieren?

Um die Nullerjahre hatte sich ein Forscherteam überlegt, wie sich parasoziale Beziehungen im Falle von übertriebenem Fankult messen lassen. Heraus kam dabei die „Celebrity Attitude Scale (CAS)“ (dt. „Prominenz-Einstellungsskala“), welche parasoziale Beziehungen in drei Entwicklungsstufen aufteilt.

  • Ebene 1 „Unterhaltung/Soziales“: Berühmtheiten dienen nur der Unterhaltung. Auf dieser Ebene neigen die Menschen nicht zu starken Gefühlen oder Bindungen gegenüber dem Prominenten bzw. der Medienfigur.
  • Ebene 2 „Intensiv/Persönlich“: Auf dieser Ebene entwickeln Menschen eine stärkere persönliche Bindung hin zum Prominenten. Es steigt der Drang, mehr über das Leben und die Persönlichkeit des Prominenten herauszufinden. Darüber hinaus äußert sich die Beziehung in Bewunderung, Nachahmen des Prominenten bis hin zu obsessiven Gedanken.
  • Ebene 3 „Pathologische Borderline-Störung“: Diese Ebene kann zwanghafte Fantasien und extremes Verhalten beinhalten. Dazu zählen finanzielle Investitionen, bspw. um die Person persönlich zu treffen oder ihre Aufmerksamkeit zu erlangen – bis hin zu illegalem Verhalten und Stalking. Auf dieser Stufe ist es üblich, dass der Fan glaubt, dass seine Gefühle erwidert werden, wenn er das Ziel seiner Bewunderung trifft.

Wer ist für parasoziale Beziehungen anfällig?

Anfälliger für parasoziale Beziehungen sind Personen,

  • welche an tiefen realen Beziehungen mangeln,  
  • welche introvertiert sind,
  • oder welche ihre persönlichen Defizite ausfüllen wollen.

Eine parasoziale Beziehung kann sogar suchtartige Züge annehmen, wenn die eigene Identität als defizitär empfunden wird oder erfüllende soziale Rollen fehlen. Mithilfe dieser Bewältigungsstrategie sucht der Betroffene unbewusst nach Erleichterung. Eine Studie von 2019 zeigte, dass Personen mit sozialen Phobien häufiger in parasoziale Beziehungen involviert waren als Personen ohne diese Phobien.

Forscher gehen aufgrund der Bindungstheorie davon aus, dass Personen eher zu parasozialen Beziehungen neigen, wenn sie als Kinder keine sichere Bindung zu ihren Eltern hatten. Der Erklärung dafür lautet, dass parasoziale Beziehung das Risiko minimieren, (erneut) abgelehnt zu werden.

Was geschieht in unserer Psyche bei parasozialen Beziehungen?

Fans in parasozialen Beziehungen nehmen Influencer als virtuellen „Kumpel“ wahr und fühlen sich in deren Videos persönlich angesprochen. Das Gehirn registriert dann eine soziale (wenn auch fälschlicherweise als gegenseitig empfundene) Interaktion und produziert die Gefühle, welche sonst bei echter zwischenmenschlicher Bindung ausgelöst werden.

Oxytocin, ein Hormon und der Auslöser dieser Gefühle, wird auch bei parasozialer Interaktion freigesetzt. Eine Erklärung: Bei sozialer Interaktion belohnt sich der Körper hormonell. Normalerweise hängt dieses Hormon mit Bindung, Einfühlungsvermögen, Vertrauen sowie Großzügigkeit zusammen.

Umgekehrt können negative Erfahrungen (auch auf sozialen Medien) die Oxytocin-Produktion hemmen – z. B. beim neidischen Blick auf Instagram-Feeds von Freunden, die gerade Urlaubsfotos posten, während man selbst arbeiten muss.

Wie entwickeln sich parasoziale Beziehungen mit Influencerinnen und Influencern?

Sozialpsychologe Univ.-Prof. Dr. Hans-Peter Erb erklärt, dass dieser Effekt bei modernen Influencern „bewusst hergestellt wird“, wenn das Publikum an alltäglichen Tätigkeiten wie der Morgen-Routine teilhaben darf. Durch die aufgebaute Sympathie öffnet sich laut Hans-Peter Erb auf Seiten des Publikums eine Tür zur „Einstellungsänderung“. Umso sympathischer der Influencer wirkt, desto massiver kann dieser die Einstellung seines Publikums beeinflussen.

Genau andersherum funktioniert der Mechanismus, wenn Sympathie in Enttäuschung umschlägt: Das nicht vorhandene Wissen über den Star, die sogenannten Leerstellen, werden vom Publikum mit dessen persönlichen Eigenschaften (Präferenzen, Meinungen, Hobbys) aufgefüllt. Dementsprechend kann es zu Enttäuschungen führen, wenn die echten Eigenschaften des Stars später ans Licht kommen, und nicht den Erwartungen des Publikums entsprechen – z. B. wenn sich ein bekannter Schauspieler unerwarteterweise gegen Impfzwang ausspricht.

Welche Faktoren fördern eine parasoziale Beziehung?

Eine Masterarbeit von Alexandra Probsdorfer und Ines Sulzer aus dem Jahre 2022 setzte sich damit auseinander, welche Faktoren das Einkaufsverhalten von Followerinnen und Followern positiv beeinflussen. Dabei kam heraus, dass sich parasoziale Beziehungen mit Social Media Fashion Influencern positiv auf das Kaufverhalten sowie das Interesse an den beworbenen Produkten auswirken.

Die parasozialen Beziehungen mit den Social Media Fashion Influencern sind laut den Forschenden umso stärker,

  • je vorteilhafter bzw. nützlicher die vom Influencer geteilten Informationen vom Follower wahrgenommen werden,
  • je motivierter und einsamer sich der Follower fühlt,
  • je höher die Expertise und Kompetenz der Social Media Fashion Influencer wahrgenommen wird
  • und je mehr Ähnlichkeit zwischen Follower und Social Media Fashion Influencer empfunden wird.

Darüber hinaus existieren in der Psychologie eine Reihe von Effekten, die bei parasozialen Beziehungen eine Rolle spielen: zum Beispiel der Pratfall-Effekt. Dieser wird von Influencern erzeugt (ob absichtlich oder unabsichtlich kann nur vermutet werden), wenn kleine Missgeschicke öffentlich gemacht werden. Experimente haben gezeigt, dass kleine Missgeschicke eine Person für ein Publikum sympathischer machen kann, wenn schon eine grundlegende Sympathie vorhanden ist – aufgrund positiv bewerteter Eigenschaften oder Leistungen. Ein Beispiel: Wenn ein eloquenter Vortragsredner aus Versehen die Kaffeetasse umkippt, macht dieses Detail die Person nahbarer.

Ein weiterer „Trick“, welcher parasoziale Beziehungen fördert, ist die Self-Disclosure. Bei der sogenannten Selbstoffenbarung teilt die Influencerin oder der Influencer seinem Publikum intime Details, bewegende Erlebnisse oder persönliche Gefühle mit. So existiert eine ganze Reihe an deutschsprachigen YouTubern, die ihre Depressionen auf ihrem Kanal publik gemacht haben. Leider ist diese Thematisierung von Mentel-Health-Themen in sozialen Netzwerken nicht ganz unproblematisch.

Die Self-Disclosure hat sich fast schon zu einem eigenständigen Format entwickelt: Followerinnen und Follower sehen bei der medialen Beichte meist den Oberkörper oder Kopf des Promis. Zuweilen wird die Nahaufnahme der Self-Disclosure mit bewegender Musik unterlegt. Manche Influencerinnen und Influencer setzen ausschließlich dieses Format ein.

Sind parasoziale Beziehungen gefährlich?

Dr. Uwe Breitenborn schreibt in seinem Aufsatz „Echt jetzt? Die virtuelle Konstruktion der Wirklichkeit“, dass „scheinbar virtuelle Beziehungen tatsächlich in einen realen, problematischen Zustand übergehen können.“ Im Falle des YouTubers Drachenlord aus Altschauerberg, der seit Jahren von Hatern zu Hause aufgesucht und gepeinigt wurde, wurden durch die parasoziale Interaktion verschiedenste „Formen von Mobbing, Beschämung und Ausgrenzung“ gefördert.

Doch können auch Followerinnen und Follower unter einer parasozialen Beziehung leiden? Wie eingangs erwähnt, können parasoziale Beziehungen einen Mangel an realen Beziehungen zum Ausdruck bringen und diesen noch verstärken, z. B. indem parasoziale Beziehungen unrealistische Erwartungen gegenüber Menschen im echten Leben fördern. Wenn Freunde oder Familienmitglieder sich ständig mit Influencerinnen und Influencern messen müssen, weil letztere schöner, reicher oder witziger sind, entsteht ein Teufelskreis.  

Wenn langfristig die parasozialen Beziehungen als erfüllender erlebt werden, kann das Verlangen sowie die Fähigkeit, echte zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen, schrumpfen. Eltern sollten daher bei Heranwachenden die Entwicklung von gesunden Beziehungen und sicheren Bindungen fördern.

Tipps im Umgang mit parasozialen Beziehungen

Nicht alle parasozialen Beziehungen haben negative Seiten. Dennoch sollten sie kritisch hinterfragt werden. Idealerweise sollte das persönliche Umfeld miteinbezogen werden. Spannend wäre, von Freunden oder Familienmitgliedern zu erfahren, ob man zu häufig auf den Profilen eines bestimmten Influencers festhängt, bestimmte Promis idealisiert oder als überkritisch erlebt wird.  

Wenn schon die Grenze überschritten wurde, kann man Maßnahmen für eine gesündere Social Media Nutzung ergreifen:

  • betreffenden Influencerinnen oder Influencer entfolgen,
  • auf Liken und Kommentieren verzichten,
  • Nutzungszeiten festlegen,
  • Achtsamkeits-Apps nutzen,
  • oder sogar Instagram (oder die betreffende Social Media-App) deinstallieren.

Stand: November 2022

Weiterführende Informationen

Über den Autor

Christian Reinhold ist seit über 10 Jahren Redakteur der Initiative Kindermedienland. Privat fotografiert er leidenschaftlich gern und spielt Gitarre.