„White Tiger“ und die Gruppe „764“: Die schreckliche neue Stufe des Cybergrooming

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„White Tiger“ und die Gruppe „764“: Die schreckliche neue Stufe des Cybergrooming

„White Tiger“ und die Gruppe „764“: Eine bedenkliche neue Stufe des Cybergrooming

Junge Frau sitzt im Dunkeln auf ihrem Bett. Ihr Gesicht wird vom Laptop angestrahlt, dass sie auf ihrem Schoß hält.
Die Cybergrooming-Fälle rund um die Gruppe „764“ machen sprachlos. Dennoch gibt es Grund zu vorsichtigem Optimismus.

Stand: Juli 2025 | Lesezeit: 9 min.

Achtung: Der folgende Text enthält explizite Darstellungen von Gewalt und Missbrauch. Bitte nur weiterlesen, wenn man sich dazu imstande fühlt. Auf weiterführende Informationen und Hilfsangebote verweisen wir weiter unten.

Der Fall „White Tiger“ erschüttert bis ins Mark: Ein junger Mann treibt einen Minderjährigen in den Suizid, der Selbstmord wird live gestreamt. Das ist nur die Spitze des Eisbergs: Die sogenannte Gruppe „764“ steht für eine besonders bestialische Form des Cybergrooming. Wie wir Jugendliche davor schützen können – und welche Anzeichen es bei Betroffenen gibt.

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    Was ist die Gruppe „764“?
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    Ein neues Maß der Radikalisierung
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    Wie gehen Cybergrooming-Täter vor?
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    Wie können sich Eltern verhalten?
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    Zuversicht mit Fragezeichen

Was ist die Gruppe „764“?

Die Gruppe „764“ ist ein international operierendes, sadistisch-pädokriminelles Netzwerk mit Anbindung an extremistische Ideologien. Das Netzwerk ist lose und ohne strenge Hierarchien aufgestellt, was eine genaue Untersuchung wie auch ein polizeiliches Vorgehen ungemein erschwert. Aktiv auf Telegram oder Discord, Gaming-Plattformen sowie in Chatforen, werden gezielt psychisch belastete Minderjährige angesprochen und manipuliert. In den Gruppen stacheln sich die Täter gegenseitig an, teilen Anleitungen, wie man – vorrangig – junge Mädchen manipuliert.

Entscheidend ist offenbar das Maß an Gewalt: Je brutaler die Taten, desto höher Prestige. „Das ganze Netzwerk kann man sozusagen als Selbstradikalisierungsspirale für Menschen mit vielleicht soziopathischen oder psychopathischen Tendenzen verstehen“, so der Journalist Roman Höfer im NDR. Höfer hat mit seinen Spiegel-Kollegen seit Jahren zu diesen erschütternden Fällen recherchiert.

Im Juni 2025 wurde ein 20-Jähriger in Hamburg festgenommen, nachdem er unter dem Namen „White Tiger“ mutmaßlich über ein Jahr hinweg mindestens acht Kinder im Alter von 11 bis 15 Jahren zur Selbstverletzung oder gar zum Suizid getrieben hat. Besonders tragisch: einem 13-jährigen Jungen wurde offenbar ein Selbstmord aufgezwungen und live übertragen. Seither kommen immer mehr Fälle ans Tageslicht, die in direkter Verbindung zur Gruppe „764“ oder „White Tiger“ stehen.
 

Ein neues Maß der Radikalisierung

Cybergrooming ist leider keine neue Entwicklung. „Der Begriff beschreibt die gezielte Anbahnung sexueller Kontakte mit Minderjährigen über das Internet. Die Täter geben sich in Chats oder Online-Communitys gegenüber Kindern oder Jugendlichen als ungefähr gleichaltrig aus oder stellen sich als verständnisvolle Erwachsene mit ähnlichen Erfahrungen und Interessen dar“, so erklärt es das Bundesminsiterium des Innern. Die medienpädagogische Referentin Saskia Nakari vom Stadtmedienzentrum Stuttgart besorgt daher aktuell auch etwas anderes: „Was mich schockiert hat, sind die bisherigen Erkenntnisse, dass in der Gruppe ‚764‘ teilweise Mobbingopfer in die Täterrolle überwechseln. Dass es plötzlich sie sind, die Macht ausüben.“

Allen Tätern gemein ist, dass pädokriminelle Täter genau wissen, wie verletzlich Kinder in dieser vulnerablen Phase der Adoleszenz sind. „Das wird schamlos ausgenutzt“, so Nakari. „Natürlich spielt in diese ganze Sache auch die Grenzüberschreitung mit hinein, die in dieser Phase des Aufwachsens ja ganz normal ist. Man will schauen, wie weit man gehen kann. Nimmt man jetzt noch mit in die Rechnung, wie viele Kinder durch Handyvideos schon mit heftigen Gewalt- oder Sexszenen in Kontakt kamen, dann kann das durchaus desensibilisieren. Ich möchte nicht so weit gehen und von einem Gewöhnungseffekt sprechen. Aber eine gewisse Abstumpfung erkennen wir da schon.“

Wie gehen Cybergrooming-Täter vor?

Grundsätzlich lassen sich zwei Arten von Tätern unterscheiden: Die, die möglichst schnell auf Resultate aus sind. Und die, die sich bewusst viel Zeit nehmen. Zweitere Gruppe findet Saskia Nakari deutlich perfider und gefährlicher. „Damit will ich die erste Gruppe nicht verharmlosen, doch in meiner Arbeit mit Schülerinnen und Schülern stelle ich immer wieder fest, wie abgebrüht und erfahren viele von ihnen schon sind. Sie wissen ganz genau, was es da draußen für Menschen gibt, nehmen sie gar nicht ernst und tauschen sich sogar darüber aus, wie viele D*ckpics sie schon bekommen haben, als wäre es das Normalste auf der Welt.“ Viele Täter gehen aber eben deutlich perfider vor, wie sie sagt: „Diese Täter nehmen sich extrem viel Zeit und bauen Stück für Stück ein Vertrauensverhältnis auf, in dem sie die Schlinge langsam zuziehen. Sie beschaffen sie persönliche Informationen oder kompromittierende Fotos und setzen die Kinder damit dann auch unter Druck.“

Besonders brutal wird diese digitale Gewalt, weil sie dort stattfindet, wo sich Kinder eigentlich sicher und geborgen fühlen sollten: im eigenen Zuhause. „Hinzu kommt, dass wir es hier mit einer Anonymität zu tun haben, die eine große Machtlosigkeit mit sich bringt“, weiß Nakari. „Man hat praktisch keinen Rückzugsort mehr, keinen Safe Space. Und das alles passiert, während sich die Eltern gerade ein Zimmer weiter aufhalten und dennoch nichts tun können.“

 

Wie können sich Eltern verhalten?

Für Saskia Nakari liegt der Schutz der Kinder vor Cybergrooming-Attacken keineswegs nur bei den Eltern. „Da sind alle gefragt – allen voran die Plattformen, aber auch die Polizei oder die Lehrkräfte. Es müsste viel mehr Aufklärung zu diesem Thema geben.“ Ein zentraler Punkt sei, die Kinder darüber zu unterrichten und begleiten, ihnen aber damit keineswegs Angst zu machen. „Kinder sollen ja keine Sozialphobien entwickeln. Für meine Begriffe arbeiten Eltern da immer noch zu viel mit Verboten. Denn gerade im Internet finden viele Kids ja auch Anschluss – gerade die, die vielleicht etwas ungewöhnlichere Hobbys haben. Das ist sehr wichtig für Zugehörigkeit und Selbstwertgefühl.“

Eine negative Nebenwirkung von Verboten könnte auch sein, dass sich Kinder im Falle eines Cybergrooming-Vorfalls nicht trauen, sich an ihre Eltern zu wenden – weil beispielsweise ein Verbot ausgesprochen wurde, eine bestimmte Plattform zu nutzen. Viel eher sollten sie an das Bauchgefühl ihrer Kinder appellieren und einige Grundregeln festlegen, schlägt Saskia Nakari vor. „Wenn jemand beim Chatten zum Beispiel zu schnell auf das Thema Körperlichkeit kommt, wenn es ständig ums Alter geht, Bilder verlangt oder Telefonnummern getauscht werden sollten, dann sollten das Red Flags sein, die die Kinder auch erkennen. Und im Idealfall ihren Eltern kommunizieren.“

Cyberkriminalität hinterlässt oftmals keine sichtbaren Spuren. Dennoch gibt es Anzeichen, die Eltern oder Lehrkräfte beachten sollten. „Betroffene Kinder ziehen sich zurück, sind niedergeschlagen und traurig, werden manchmal sogar wieder zu Bettnässern“, so Nakari. „So oder so kommt es in solchen Fällen zu einer Verhaltensänderung. Und eine solche deutet ja immer darauf hin, dass psychosozial etwas unstimmig ist.“

Wichtig sei, Kindern nie die Schuld daran zu geben. „Wir müssen diese Dinge ernst nehmen, zuhören, aber nicht zu viel nachbohren. Und danach in aller Ruhe darüber nachdenken, wen man sich mit ins Boot holen kann. Auch da sollte man stets Rücksprache halten und nie über den Kopf der Betroffenen hinweg entscheiden.“ Ein zentraler Punkt: Die Betroffenen haben in diesem Moment die Kontrolle verloren. Da wäre es fatal, wenn man sie ihnen weiterhin entzieht. „Wenn die betroffene Person einverstanden ist, sollte man sich an eine Fachberatungsstelle wenden. Bei uns ist das KOBRA e.V., aber es gibt auch die Landeskoordinierung, die LKSF Baden-Württemberg e.V., wo alle Fachberatungsstellen aufgelistet sind.“

Zuversicht mit Fragezeichen

Viele Kinder und Jugendliche sind schon heute gut vor einer Cybergrooming-Attacke geschützt. Wie die neue Cybergrooming-Studie der Medienanstalt NRW besagt, nehmen 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen acht und 16 Jahren nur Kontakt mit Menschen im Internet auf, die sie auch offline kennen. „Das bedeutet“, sagt Saskia Nakari, „dass sie meisten vorsensibilisiert sind und mitdenken. Schade finde ich, dass es für die meisten ein Stück weit Normalität geworden ist, diesen Dingen ausgesetzt zu sein. Dabei ist das Versenden eines D*ckpics eine Straftat, die man anzeigen kann und sollte – und zwar ganz einfach vom Sofa aus auf www.dickstinction.com. Auch die Anbahnung einer sexualisierten Kommunikation mit Minderjährigen ist eine Straftat. Da hilft es, die Chats immer zu screenshotten.“

Aus der Studie geht ebenfalls hervor, dass sich zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen mehr Aufklärung darüber in der Schule wünschen. Das heißt, dass sich die Kids bewusst mit diesem Thema auseinandersetzen und noch besseres Rüstzeug brauchen, um die Untiefen der digitalen Welt zu navigieren. Das sollte ihnen dringend an die Hand gegeben werden. Es zeigt nämlich vor allem eins: Medienbildung hilft. Und kann Leben retten.

 

Weiterführende Informationen

Über den Autor

Björn Springorum ist freier Journalist und Schriftsteller. Er schreibt u.a. für die Stuttgarter Zeitung, den Tagesspiegel und konzipiert Comic-Geschichten für “Die drei ???". Als Schriftsteller hat er bislang fünf Kinder- und Jugendbücher verfasst. Zuletzt erschienen: “Kinder des Windes" (2020), Thienemann Verlag. Er lebt in Stuttgart.