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„SkinnyTok“: Wie Influencer*innen Essstörungen verursachen können
Stand: Juni 2025 | Lesezeit: 7 min.
Der zarte Siegeszug der „Body Positivity“ scheint vergessen – Hungern ist wieder angesagt: Derzeit verbreitet sich der Social-Media-Trend „SkinnyTok“ wie ein Lauffeuer. Die Influencer*innen dahinter propagieren einen angeblich gesunden Lebensstil, treiben ihre zumeist jungen Follower*innen mit gefährlichen Diättipps und Ernährungslügen aber reihenweise in Essstörungen.
- 1„SkinnyTok“: Ein toxischer Trend
- 2Wie „SkinnyTok“ funktioniert
- 3Welche Auswirkungen „SkinnyTok“ haben kann
- 4Warnzeichen
- 5Was man dagegen tun kann
„SkinnyTok“: Ein toxischer Trend
Wer den Hashtag #skinnytok in den sozialen Medien anwendet, erhält direkten Zugang zu Abermillionen Beiträgen von spindeldürren, mageren oder zumindest auffällig dünnen Frauen, die ihre eigene Schlankheit zum neuen Schönheitsideal hochstilisieren. Die Kalorien zählen, direkt zum Essensverzicht auffordern und Tipps geben, wie man verheimlicht, wenig bis gar nichts zu essen. „Hinter diesem Hashtag warten Ernährungstipps und bestimmte Philosophien rund um Ernährung, unser Körperbild und die Wichtigkeit, schlank zu sein“, weiß Sabine Dohme vom ANAD Versorgungszentrum Essstörungen. „Leider sind diese Begrifflichkeiten wie auch der besagte Hashtag extrem toxisch besetzt.“
Wie „SkinnyTok“ funktioniert
Wie so viele Trends, schwappte auch „SkinnyTok“ aus den USA zu uns herüber, wo insbesondere die bei TikTok mittlerweile gesperrte, fast schon religiös verehrte Influencerin Liv Schmidt Millionen Follower um sich scharen konnte. „Ihre Kritiker sagen, sie transportiere gefährliches Gedankengut, das Essstörungen auslösen könne.“, heißt es in einem neuen Artikel der Süddeutschen zu diesem Thema. Liv Schmidt selbst sagt aber eben, „sie habe noch nie Essstörungen gefördert. Es sei nichts Verwerfliches daran, dünn sein zu wollen.“ Dennoch befeuert „SkinnyTok“ Essstörungen unter dem Deckmantel gesunder Ernährung. Und das ist vor allem für junge Frauen fatal.
Sabine Dohme erklärt das Erfolgsrezept der Influencer*innen so: „Wenn ich Ihnen jeden Tag eine Zigarette anbiete und Ihnen sage, dass Sie Ihnen guttut, dass sie gesund ist und sie erfolgreich macht, dann geben Sie irgendwann nach. Und dann bleibt es nicht bei der einen Zigarette. Dann wollen Sie mehr. Genau so funktioniert ‚SkinnyTok‘.“ Das falsche Versprechen von mehr Erfolg, mehr Begehren, mehr Zufriedenheit pflanzt sich ins Unterbewusstsein ein und entwickelt dann ein Eigenleben: Plötzlich zählt man Kalorien, plötzlich ist man stolz, wenn man auf eine Mahlzeit verzichtet hat.
All das ist, soweit natürlich kein Geheimnis, ist eine direkte Auswirkung des Patriarchats und des gewandelten politischen Klimas. Hypermaskulinität ist wieder en vogue, Gruppierungen wie die Tradwives lassen die klassische Rolle der unterwürfigen Ehefrau wieder aufleben, die nur dazu da ist, um ihren Mann glücklich zu machen. Und Männer, tja, die wollen anscheinend überwiegend dünne Frauen. So das kolportierte Bild.
Welche Auswirkungen „SkinnyTok“ haben kann
Besonders vulnerabel sind wie so oft Jugendliche und junge Erwachsene. Menschen in der Findungsphase, die noch nicht genau wissen, wo sie ihren Platz finden sollen. „Die Kern-Followerinnen beim Thema ‚SkinnyTok‘ sind junge Mädchen und Frauen zwischen zwölf und 20 Jahren“, so Dohme. „Gerade in der Pubertät ist das Selbstwertgefühl noch nicht stark ausgeprägt. Dennoch betrifft das Frauen aller Altersklassen – und nicht nur die: Rund zehn Prozent der ‚SkinnyTok‘-Zielgruppe sind Männer.“
Je tiefer man in den Strudel des Skinny-Wahns gerät, desto gefährlicher die Auswirkungen für Körper und Psyche. „Das ist ein schleichender Prozess“, erklärt Sabine Dohme. „Erst beginne ich, mein Essen zu regulieren, achte darauf, was ich esse und trinke. Viele merken gar nicht, wie sie dabei in eine Essstörung abrutschen. Man lässt mehr und mehr Lebensmittel weg, betreibt exzessiv Sport, lügt über sein Essverhalten. Das kann schlimme Folgen haben: Bei Frauen kann die Periode ausbleiben, die Haare können ausfallen und es kann dazu führen, dass man gar keine Kinder mehr bekommen kann.“ Die häufige Folge: Anorexia nervosa, also Magersucht.
Und damit hört es nicht auf: „Im schlimmsten Fall kann eine solche Essstörung zum Tod führen. Ich spreche regelmäßig mit Eltern, die mir anvertrauen, dass sie ihrer Tochter beim Sterben zuschauen. Da spreche ich einer Influencerin jedes Verantwortungsgefühl ab. Wenn Sie mich fragen, weiß jede Influencerin genau, was sie da tut. Das ist eine Gelddruckmaschine, ich sage das bewusst so deutlich. Und dahinter ist ja nicht mehr nur diese einzelne Influencerin, sondern ein ganzer Apparat mit Agentur und Angestellten. All diese Menschen nutzen die parasoziale Beziehung aus, die junge Mädchen zu diesen Influencerinnen aufbauen.“ Fest steht: Etwa zehn bis 15 Prozent aller von Magersucht Betroffenen sterben. Das ist eine der höchsten Sterberaten bei psychischen Erkrankungen.
Warnzeichen
Auch wenn Essstörungen schleichend beginnen und oftmals auch für Betroffene lange nicht als solche zu erkennen sind: Gewisse Warnsignale sollte man als Eltern, Erzieher*innen oder Erziehungsberechtigte niemals ignorieren: „Es beginnt mit einem sozialen Rückzug und geht mit Ausreden für gemeinsame Essen weiter – etwa ‚ich habe schon bei meiner Freundin gegessen‘“, zählt Sabine Dohme auf. „Später werden gezielt bestimmte Lebensmittel vermieden, was auch nicht sofort auffällt – es gilt ja erst mal als gesund, eher einen Salat als einen Burger zu essen.“ Stimmungsschwankungen gehören ebenso dazu wie die oben aufgezählten äußerlichen Symptome.
Was man dagegen tun kann
Natürlich sind wie bei allen gefährlichen Social-Media-Trends die Plattformen selbst gefragt. Doch selbst das Sperren von Influencerinnen wie Liv Schmidt oder das Einschränken bestimmter Hashtags ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein: Sofort rücken die nächsten Influencerinnen nach, sofort verbreiten sich neue Hashtags. Deswegen wird auch die jüngste Maßnahme von TikTok, bei der Verwendung des #skinnytok-Hashtags auf Beratungsangebote weiterzuleiten, nicht vierl ausrichten. Sabine Dohme ist daher überzeugt davon, dass wir uns bei wichtigen Themen wie diesen nicht auf die Plattformen verlassen sollte. „Wir müssen gesellschaftlich und politisch hinschauen und uns fragen, wo wir als Gesellschaft hinmöchten.“
Insbesondere Eltern sollten sich überlegen, wo ihre Tochter stattfindet: Zunehmend im digitalen Raum oder auch noch mit echten, analogen Freundschaften. „Wichtig ist Interesse, ist ein offener Dialog auf Augenhöhe – und niemals ein Verurteilen“, betont Dohme. „Und sobald ich als Elternteil die Vermutung habe, dass mein Kind eine Essstörung entwickeln könnte, muss ich mir Hilfe holen.“ In der Region Stuttgart ist das etwa A.B.A.S., ebenso wichtig zu erwähnen ist hier die Online-Beratung ANAD-dialog.de. Dohme abschließend: „Essstörung ist eine schwere psychosomatische Erkrankung und gehört in Hände von Fachleuten und nicht in die von Influencerinnen.“
Weiterführende Informationen
Weitere Links
www.ard.de
SkinnyTok bei der ARD
www.nzz.ch
SkinnyTok-Influencerin bei der NZZ
www.kiss-stuttgart.de
Selbsthilfegruppen bei Essstörungen