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„Hate Watching“: Warum konsumieren wir Medien, die wir peinlich finden? (Kopie 1)
Stand: Juni 2025 | Lesezeit: 7 min.
Unter dem Phänomen „Hate Watching“ verstehen Medienexpert*innen das bewusste Konsumieren eines Medienformats, obwohl man es schlecht, lächerlich oder gar anstoßend findet. Das können Filme und Serien sein, aber auch Trash-TV-Formate oder die Instagram-Accounts bestimmter Parteien. Aber woher kommt die Lust an der Abscheu? Und kann sie auch gefährlich sein?
- 1Die Lust am Trash
- 2Im Zeitalter des Spektakels
- 3Warum eigentlich „Hate Watching“?
- 4Werden Hate Watcher zu Hatern?
Die Lust am Trash
Mit Medienformaten ist es ja ein bisschen wie mit einschlägigen Fast-Food-Ketten: Angeblich geht niemand hin, aber irgendwie sind sie immer voll. Bei Trash-TV-Formaten wie „Schwiegermutter gesucht“ oder „Frauentausch“ ist das ähnlich: Zugeben würden es die wenigsten, doch die Einschaltquoten sprechen eine andere Sprache. Wie also ist diese Diskrepanz zu erklären? Wieso verschwenden wir unsere Zeit für Serien, Filme oder andere Formate, obwohl wie sie eigentlich gar nicht mögen oder sogar peinlich finden?
Prof. Dr. phil. Oliver Zöllner vom Institut für Digitale Ethik an der Hochschule der Medien Stuttgart hat eine simple Antwort darauf: „Auch wenn wir häufig gegenteiliges behaupten, haben wir oft einfach genügend Zeit übrig. Und diese verschwenden wir eigentlich sogar ganz gern. Indem wir uns von Social Media oder linearem Fernsehen berieseln lassen. Da ist es im Grunde sogar egal, wenn wir diese Dinge eigentlich nicht mal gut finden. Es ist ja nur nebenbei. Und kann außerdem als Ironie heruntergespielt werden.“
Dennoch, und das ist der spannende Effekt: Wir ziehen häufig auch ein gewisses Vergnügen aus dem Konsum solcher Formate. „Ein Vergnügen an der Abscheu spielt da unweigerlich eine Rolle“, stimmt Zöllner zu und verweist exemplarisch auf die gefürchteten Prüfungen im Trash-Dauerbrenner „Das Dschungelcamp“. „Außerdem ist uns Menschen durchaus auch ein bisschen Arroganz und Überheblichkeit in die Wiege gelegt. Wenn es anderen Menschen schlechter geht als einem selbst, kann man sich dadurch ein wenig überhöhen und besser fühlen.“
Im Zeitalter des Spektakels
Die Faszination an Dingen, die wir eigentlich nicht leiden können, an sensationshungrigen Formaten, führt Oliver Zöllner bis in die Antike zurück. „Der Spektakelcharakter hat schon immer funktioniert“, meint er. „Das war damals im Kolosseum nicht anders, als es um Brot und Spiele ging, um die Massen abzulenken. Und das ist heute nicht anders. Wir leben im Zeitalter des Spektakels, also ist das, was wir im Fernsehen oder auf Social Media sehen, auch davon geprägt. Da muss man nur mal in die USA schauen“, so Zöllner. „Da inszeniert sich sogar der Präsident als Spektakel. Klar fasziniert uns das, obwohl es uns eigentlich abstößt.“ Längst ist daraus eine Industrie geworden. Mit Influencer*innen, die diese Formate bewusst konsumieren, verarbeiten und damit sogar erfolgreich auf Tournee gehen.
Warum eigentlich „Hate Watching“?
Ein wenig irreführend ist der Begriff „Hate Watching“ dann aber schon. Denn oftmals bezeichnet man damit ja eher den Konsum von Dingen, die vielleicht nicht besonders hochwertig oder eben ein wenig peinlich sind. „Ich sehe hinter diesem Begriff eher ein paradoxes Betrachten von Dingen, die man eigentlich einerseits verabscheut, andererseits aber faszinierend findet“, sagt Zöllner. „Das kann zahlreiche Ausprägungen haben. Dafür muss man sich einerseits ‚Germany’s Next Top Model‘ und andererseits den riesigen Erfolg all dieser True-Crime-Formate anschauen – übrigens überwiegend von Frauen konsumiert, weil sie tragischerweise öfter Opfer von Verbrechen werden. Für mich gehört das alles klar dazu.“ Selbst psychologisch kann man sich diesem Thema höchst spannend nähern.
Was früher überwiegend auf Trash-TV-Formate zutraf, hat sich gewandelt. Wir folgen mit fasziniertem Schrecken Elon Musks Entgleisungen auf X oder konsumieren jeden Tag aufs Neue, welche unfassbaren Dinge der Präsident der Vereinigten Staaten von sich gibt, vielleicht schauen wir uns auch mit Vergnügen die Wiederholung einer wirklich schlechten Serie aus den Achtzigern an. „Dieses Phänomen ist in allen Medienformaten zuhause“, nickt Oliver Zöllner. „Nehmen wir nur mal eine Soap Opera wie ‚In aller Freundschaft‘. Die haben auch viele Ärzte in meinem Umfeld geschaut und daraus eine gewisse vergnügliche Abscheu gezogen.“ Er lächelt: „Zugegeben haben sie es aber äußerst ungern.“ Mittlerweile haben natürlich auch die Sender und Content-Creator dieses Phänomen erkannt: Serien werden manchmal allein deswegen zum Hit, weil die Menschen sie anschauen wollen, um dann frotzelnd mitzureden.
Werden Hate Watcher zu Hatern?
„Hate Watching“ ist längst ein virales Phänomen. Wir ärgern oder schämen uns nicht mehr nur zuhause im Wohnzimmer, sondern längst auf den digitalen Tummelplätzen der sozialen Medien. Dort kommentieren wir alles und jeden, kritisieren Celebritys oder Menschen, die Fans derselben sind. „Hate Watching“ ist zur globalen Ware geworden, mit der wir uns auch in der digitalen Welt überhöhen wollen. Die negative Seite sind all die Trolle, die sich jeden Tag aufs Neue große Mühe geben, die sozialen Medien in asoziale Medien zu verwandeln. „Ihre destruktive Art kann dann wiederum neues ‚Hate Watching‘ befeuern, weil sie die Postings der User direkt zu einem neuen Format machen. Sie machen Menschen für den Konsum bestimmter Formate schlecht und überhöhen sich dadurch wiederum selbst. Hier wäre natürlich mehr Toleranz gefragt.“
Besorgniserregend findet Oliver Zöllner auch, dass auch durch Phänomene wie „Hate Watching“ und eigentlich harmloses Konsumieren schlechter Formate die Hasskultur in Deutschland massiv gefördert wurde. „Hass ist gesellschaftsfähig geworden“, stellt er fest. „Trash-Formate und die sozialen Medien haben in den letzten 20 Jahren dafür gesorgt, dass es ein Stück weit normal geworden ist, Hass zu artikulieren. Das Haten ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, man hat sich daran gewöhnt, dass Menschen Gift und Galle spucken – auch wenn es nur eine Reaktion auf eine Person ist, die ihre Liebe zu einer Musikband zum Ausdruck bringt. Für mich ist das ein Sittenbild unserer Gesellschaft.“
Die soziale Komponente dieses Phänomens sei nun mal „nicht zu unterschlagen“, so Zöllner. Wir können einen Gewinn aus einem Format schlagen, das wir insgeheim verabscheuen oder peinlich finden, indem wir selbst zu Sendern werden und der Welt unsere Meinung kundtun. So wird unsere eigene Meta-Ebene wiederum direkt zu neuem Content, der durchaus die Kreativität befeuern kann, um es mal positiv auszudrücken.“ „Hate Watching“ per se ist also nicht schlimm. Solange es nicht in Hatespeech mündet.
Weiterführende Informationen
Weitere Links
www.blick.ch
Wie Meghan Markle Hate Watching befeuert
www.rnd.de
Kann Hate Watching glücklich machen?
www.podcast.de
Podcast über das Phänomen